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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein
Autoren: David Schönherr
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vollständig aufzugeben.
    Jetzt war es endgültig zu spät: Jetzt hatte er diese einmalige Gelegenheit für immer davonziehen lassen, für einen lumpigen Beutel Münzen.
    Mürrisch betrat Hobrecht sein Arbeitszimmer, blätterte lustlos in Büchern und Papieren herum und schob schließlich alles beiseite.
    Sein Blick fiel auf die mit Stoff verhangene Staffelei in der Ecke des Zimmers.
    Hobrecht ging zur Tür, schaute, ob niemand in der Nähe war. Dann trug er sein Werk in den Raum hinein und zog das schützende Tuch beiseite.
    Die früher klaren Farben klebten hart auf der Leinwand, welche er mit – mittlerweile rostigen – Nägeln am Rahmen befestigt hatte. Ebenso die Rahmenteile, die er grob verkeilt und so den Stoff hauchfein angerissen hatte, was der besorgten Miene der Madonna nun ein zerknittertes Antlitz verlieh. Die hochgezogenen Brauen, der gestreckte Hals und der dreifache Heiligenschein verschwanden dadurch unter unzähligen winzigen gelblich schimmernden Wellen, die ihrer leidenden Aura den Anschein ungewollter Komik gaben. Ihren flehenden Blick hatte Hobrecht ohnehin schon mittels unpassender Farbgebung verdorben, und ihre unproportionalen Glieder schienen ohne einen Hauch von Fingerspitzengefühl angeordnet zu sein. Hier fehlte ein Schatten, da ein wichtiges Detail, dort eine Prise Phantasie. Furchtbarer hatte die Heilige Maria vermutlich nie ausgesehen, und jeder, der sie auf diesem Bild erblickte, würde sie – da war sich Hobrecht sicher – unweigerlich für eine Kreatur der Hölle halten.
    Ferdinand – den wollte Hobrecht am liebsten noch heute vergessen.
    Er seufzte, ließ den Blick fallen. Diese Arbeit war verloren, kein Zweifel. Da half es auch nichts, dass Hobrecht mit einem wahrhaftigen Meister der Kunst Kontakt gehabt hatte. Hier war jede Mühe umsonst – diese Maria würde niemals jemandem Trost und Hoffnung spenden.
    Der Pfarrer schüttelte sich.
    Nicht auszudenken, wenn andere Leute diese Arbeit zu Gesicht bekämen! Was würde man von ihm denken? Man würde über ihn reden, ihn auslachen, ihn zum Gespött der Straße machen. Man würde diese Arbeit mit seinen beruflichen Tätigkeiten vergleichen, man würde ihn genau unter die Lupe nehmen, ihn vielleicht sogar vorübergehend von seinen Ämtern entheben – im Interesse der öffentlichen Ordnung!
    Schon spürte Hobrecht die Blicke der Nachbarn auf sich, wandte sich ängstlich um und brauchte einen Moment, um die unsichtbaren Schatten aus seinem Geist zu verscheuchen. Hastig ergriff er das Tuch, um das Bild zu verhüllen und es in die dunkle Ecke zurückzuschieben, in der Absicht, es möglichst bald endgültig zu vernichten.
    Weiter kam er nicht.
    Sein Blick fiel auf die Innenseite jenes Tuches, das sein Bild jahrelang schützend bedeckt hatte. Von außen hafteten Staub und Spinnweben daran, die Umrisse von Staffelei und Leinwand hatten sichtbare Linien im Gewebe zurückgelassen. Die Innenseite jedoch war nicht mehr – wie sie es eigentlich sein sollte – einfach nur weiß. Deutliche Linien hoben sich vom Grund des Stoffes ab, sichtbare Formen traten hervor.
    Der Pfarrer erbleichte nicht nur – er versteinerte, während er den bemalten Stoff mit beiden Händen vor sich hielt.
    Trotz seiner Überraschung erkannte er natürlich sofort, was diese versteckte Zeichnung darstellte: seine Maria, als Spiegelbild. Anders als sein eigenes Bild war diese Heilige zwar nur mit Kohle gezeichnet worden, trotzdem drang aus diesem Werk ein Leuchten hervor, wie es der Pfarrer noch nicht gesehen hatte. Ihre anmutige Gestalt, ihre gütigen Augen, ihr sanftes Lächeln – diese versteckte Maria stand in völligem Kontrast zu dem, was er selbst erschaffen hatte.
    Hobrecht wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte; seine Mundwinkel zitterten, sein Herz raste.
    Die Freude darüber, sein eigenes Werk auf wundersame Weise endlich vollendet zu sehen, mochte sich allerdings nicht so recht einstellen. Der Anblick dieser himmlischen Maria, ihrem göttlichen Antlitz, ihrer barmherzigen Aura – dies alles leitete im Pfarrer stattdessen eine verhängnisvolle Verwandlung ein.
    Innerhalb weniger Momente verschwanden durch den Blick der wahrhaftigen Heiligen Maria aus Hobrechts Gedanken sämtliche Sorgen und Probleme, die er über die Jahre angesammelt hatte. Mehr noch: Die verspannten Schultern lockerten sich, die ewige Müdigkeit fiel von ihm ab, selbst Gallensteine und Magenkrämpfe lösten sich in Luft auf.
    Der Nachteil dieser Reinigung war jedoch, das
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