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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein
Autoren: David Schönherr
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ernst sich die Lage tatsächlich darstelle. Es sei immer besser, auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein. Allerdings, er sah sich um, seinen Berechnungen nach müssten sie schon in eine der Strömungen gekommen sein, die sie geradewegs in seine Heimat bringen würden. Die niederländische Küste sei schon etliche Meilen weit entfernt.
    Aus den Augenwinkeln musterte Gerlach den Wärter. Eine abgetragene Uniform des Irrenhauses, aufpolierte Stiefel, an seiner Hüfte hing ein blanker Säbel. Seine gerade Sitzhaltung, seine feste Stimme und sein ganzes Wesen erinnerten Gerlach mehr an einen Offizier als an einen simplen Aufseher.
    Sobald der Nebel emporstieg, wollte er ihre Position exakter bestimmen. Es werde alles gutgehen.
    Der Weißhaarige wandte seinen Blick nun zur Seite, konzentrierte sich auf etwas neben ihm, das Gerlach nicht erkennen konnte. Obwohl ihm die Kälte des Nebels zu schaffen machte und die vergangene Nacht in seinen Knochen saß, gab Gerlach seiner Neugier nach, beugte sich leicht nach vorne und schielte an dem Mann vorbei.
    Es donnerte und blitzte erneut, viel näher als zuvor. Unvermittelt erhob sich der Wärter, so dass das Boot leicht schaukelte und einige Menschen im Boot überrascht aufschreckten.
    Neben dem freigewordenen Platz erschien nun das, was für Gerlach bisher unsichtbar gewesen war.
    Ein junger Mann saß dort, der ein Stück Papier in der Hand hielt und die Menschen um sich herum zeichnete: Männer. Frauen. Kinder.
    Er befürchte, murmelte der Wärter, die niederländische Flotte mache Jagd auf Plünderer.
    Gerlach traute seinen Augen nicht.
    Nahezu alles an dieser zeichnenden Person schien dreckig, verletzt, zerfetzt, stinkend oder sonst wie abstoßend zu sein – bei jedem anderen Menschen hätte Gerlach sich so schnell wie möglich unauffällig weggedreht, und obwohl sich ein Gefühl des Ekels in seinem Magen ausbreitete, warf er einen ungenierten Blick auf diese Kreatur, die in Gerlach unaufhaltsam ein berauschendes Gefühl auslöste.
    Winzige Tiere krabbelten diesem Menschen durchs verfilzte Haar; Eiter und Schlimmeres lief aus entzündeten kleinen Schnitten und Hautaufschürfungen; die Fingernägel – sofern vorhanden – pechschwarz, zerbrochen, die Hände zerfurcht und rissig – Gerlach sah durch all diese Abscheulichkeiten hindurch.
    Nichts an diesem Wesen ließ für Außenstehende erahnen, welche Qualitäten in ihm ruhten – in Ferdinand Meerten, so ging es Gerlach durch den Kopf. Denn dass es sich um diesen handelte, war Gerlach sofort klar.
    Allein die Konturen dieser Person da neben ihm wollten einfach nicht stillstehen und flackerten und flimmerten beharrlich hin und her – was Gerlach seiner zunehmenden Sehschwäche zuschrieb, obwohl er dieses auffällige Flimmern sonst noch nie wahrgenommen hatte. Schon gar nicht auf diese kurze Entfernung!
    Der Herr Oberaufseher Huygens hätte an solchen sinnlosen Verfolgungen sicher seine helle Freude gehabt, fuhr der stehende Mann fort, machte eine langsame Drehung um sich selbst und spähte in den undurchsichtigen Nebel hinein.
    Für elegantes Taktieren oder kunstvolle Manöver habe er nur wenig Interesse gezeigt; pompöse Veranstaltungen wie jenes nachgestellte Gefecht schienen ihm zweifellos besser gefallen zu haben. Über Geschmack musste man natürlich nicht streiten – beim Schachspiel sei Huygens jedoch ein erschreckend harmloser Gegner gewesen: keine Strategien, kaum Defensive. Zugegeben, solche Partien würden ihn, Howard Brown, meist schon nach den ersten Zügen langweilen.
    Gerlach hörte kaum noch zu; alle Gedanken in seinem Kopf und all die Eindrücke um ihn herum rückten in weite Ferne. Das Flimmern um diesen zeichnenden Menschen verstärkte sich – vielleicht war es die Aufregung, der Rausch der Vorfreude, der sich in der nahenden Erfüllung seines letzten Wunsches unaufhaltsam in ihm ausbreitete.
    Dort – keine Armlänge von ihm entfernt – inmitten eines winzigen Bootes – im Nebel – auf dem Meer – hinter dem Ende der Welt – dort saß – Ferdinand Meerten.
    Brown setzte sich wieder, zwischen Gerlach und Ferdinand, nahm Gerlach völlig die Sicht.
    Dieser Nebel erinnere ihn, Brown, an längst vergangene Tage.
    Gerlachs Gesichtszüge verdunkelten sich. Allein die Kälte in seinen Knochen verhinderte, dass er versuchte, den Störenfried gewaltsam aus seinem Sichtfeld und über Bord zu werfen. Stumm blieb er sitzen, versuchte erfolglos, durch seinen Sitznachbarn hindurchzustarren.
    Erst, als Brown
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