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Der Welt den Ruecken - Erzaehlungen

Der Welt den Ruecken - Erzaehlungen

Titel: Der Welt den Ruecken - Erzaehlungen
Autoren: Elke Heidenreich
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Bestellung auf den Tisch, ohne das Essen abzuwarten oder den Wein auszutrinken und ging zurück in ihr Abteil, um ihren Mantel anzuziehen und den Koffer aus dem Netz zu holen. Sie dachte nicht darüber nach, was sie wollte. Sie wollte einfach, und die Melancholie war mit einem Schlag verflogen.
    Der Zug hielt in Ulm, Franziska stieg aus und hatte ein beschwingtes, kribbelndes Gefühl im Bauch. »Wir wollen doch mal sehen«, dachte sie und steuerte die Post mit den Adreßbüchern an.
    Sie fand seinen Namen sofort, es war kein Allerweltsname, und es war eine Adresse angegeben. Franziska notierte sich nur die Anschrift, nicht die Telefonnummer, und nahm sich ein Taxi.
    Erst vor seiner Haustür – es war ein altes Mietshaus mit vielen Parteien, er wohnte im ersten Stock – war ihr plötzlich mulmig zumute. Er würde natürlich verheiratet sein. Er würde sie gar nicht mehr erkennen. Er war jetzt zweiundsechzig, und was sollte sie seiner Frau erklären, wer sie war und warum sie klingelte? Eine Jugendfreundin, zufällig in Ulm, ein kurzes Wiedersehen, nur zehn Minuten – die Neugier siegte über Ängste und Skrupel, und Franziska klingelte. Sie bat den Taxifahrer, auf sie zu warten.
    Die Haustür wurde aufgedrückt. Sie ging in den ersten Stock, und da stand er. Sie erkannte ihn sofort, aber sein Gesicht verriet Unsicherheit. Er war ein alter Mann geworden, schwer, in einer schlabbrigen Strickjacke und an den Knien ausgebeulten braunen Cordhosen stand er da und starrte sie an.
    »Kennst du mich noch, Heinrich?« sagte Franziska und streckte ihm ihre Hände entgegen. »Ich bin die kleine Studentin. Franka.«
    »Ich werd nicht mehr«, sagte er und schloß sie in seine Arme. »Wie lange ist das her?«
    »Fast dreißig Jahre«, sagte Franziska und sah ihn an. »Ich bin zufällig in Ulm, und ich wollte dich einfach noch mal wiedersehen.« Sie sah sein müdes altes Gesicht, tiefe Falten, Spuren von zuviel Alkohol. Er trug eine Brille. Aber er hatte immer noch Reste seines jungenhaften Charmes in den hellen Augen.
    »Komm rein«, sagte er und schob sie in eine Wohnung, die muffig und ungelüftet roch. In einem biederen Wohnzimmer mit Ledercouch, Schrankwand und Fernseher setzte sie sich aufs Sofa. Sie zog ihren Mantel aus, und er holte Cognac und zwei Gläser.
    »Die kleine Franka«, sagte er und sah sie prüfend an. »Du hast dich gut gehalten im Gegensatz zu mir.«
    »Ich bin ja auch gute sechzehn Jahre jünger als du«, lachte sie, und er fragte: »Sechzehn Jahre? Warst du damals schon so jung?«
    Sie prosteten sich zu, tranken, und Franziska fragte: »Was machst du? Was macht der Waschsalon, komm, erzähl mal.«
    »Das weißt du noch?« staunte er. »Ja, hab ich gemacht damals, zwei Waschsalons, liefen gut. Jetzt bin ich Frührentner, hatte einen Unfall –«, er zog ein Hosenbein hoch und wies auf eine große, rote Narbe. »Und die Leber. Immer zuviel gesoffen.«
    »Verheiratet?« fragte Franziska und sah keine Spuren einer Frau in dieser trostlosen Wohnung. »Dreimal«, sagte Heinrich und grinste wieder sein freches, selbstbewußtes Grinsen, das sie damals so bezaubert hatte. »Dreimal verheiratet, dreimal geschieden, zwei Töchter. Und du?« »Glücklich verheiratet, keine Kinder«, sagte Franziska. Sie sah ihn prüfend an. »Ich weiß noch alles«, sagte sie lächelnd.
    »Naja«, sagte er, »alles weiß ich nicht mehr, aber vieles. Ich erinnere mich gut an dich, Franka. An uns. Ich war dein erster.«
    »Du warst der erste«, nickte sie, »und du warst großartig. Wie stehts heute mit der Liebe?«
    Er winkte ab. »Gar nichts mehr. Ich hab seit vier oder fünf Jahren mit keiner Frau mehr geschlafen. Da läuft nichts mehr.«
    Franka konnte es nicht fassen. »Du warst so ein wunderbarer Liebhaber«, sagte sie, »das hört doch nicht plötzlich auf, und schon gar nicht mit zweiundsechzig? Denk mal an Charlie Chaplin, mit über achtzig hat der noch ein Kind gemacht. Oder Anthony Quinn.«
    »Willst du, daß ich dir ein Kind mache?« grinste Heinrich, und sie sagte: »Ich bin schon in den Wechseljahren, stell dir vor.«
    Sie lachten beide, prosteten sich zu, Heinrich goß noch mal nach, und es entstand so ein Moment, in dem Franziska wußte: Entweder ging jetzt etwas weiter oder sie würde sofort aufbrechen und in den nächsten Zug nach Stuttgart steigen.
    »Weißt du was«, sagte sie, und ihr Herz klopfte wie damals. »Ich bin glücklich, daß ich dich wiedersehe. Wir beide mieten uns jetzt in einem schönen Hotel ein, wie
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