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Der Welt den Ruecken - Erzaehlungen

Der Welt den Ruecken - Erzaehlungen

Titel: Der Welt den Ruecken - Erzaehlungen
Autoren: Elke Heidenreich
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Schülerin. Sie lernte seinen und ihren Körper mit allen Möglichkeiten, mit allen Gerüchen kennen und lieben und begriff, was sie wissen mußte, um in diesen Dingen in ihrem Leben keinen Ängsten und Enttäuschungen mehr ausgesetzt zu sein. Sie konnte fordern, sie konnte geben, sie konnte genießen, und danach trank man ein Glas Wein und rauchte eine Zigarette – wie einfach es doch war. Sie war wie in einem Rausch.
    Zehn Tage.
    Am Ende dieser zehn Tage sah sie ihn an und dachte: Nun ist es genug. Es gab nichts mehr, was sie nun noch hätten ausprobieren, schon gar nichts, worüber sie noch hätten reden können, dieser fünfunddreißigjährige Schlosser aus Ulm und diese neunzehnjährige Studentin. Sie hatten sich im besten Sinne aneinander satt geliebt, lagen stumm und zufrieden nebeneinander im Bett und schliefen in der letzten Nacht tief und fest, zwar eng aneinander geschmiegt, aber zum ersten Mal ohne Sex. Es war ihr Abschied. Sie dachte lächelnd an all seine albernen Sprüche, vom »wohltemperierten Glas Bier« bis zu »lieber nix arbeiten als beim Essen getrennt sitzen«. Er war voll mit solchem Unsinn, und sie hatte darüber gelacht, ja, aber nun wollte sie es keinen Tag länger mit anhören müssen. Außerdem war ihr aufgefallen, daß er am letzten Abend in der Dorfwirtschaft mit der Kellnerin geflirtet hatte und einen seiner Sprüche schon für die Kellnerin und nicht mehr für Franka losgelassen hatte: »In der kleinsten Wirtschaft ist es besser als in der größten Schuhfabrik, hab ich recht, schöne Frau?«
    Auch er war ihrer überdrüssig geworden, und sie empfand gar keinen Kummer darüber, sondern eine ruhige, gelassene Zufriedenheit. Man hatte einander gutgetan, man würde sich ohne jedes Drama wieder trennen. Wenn sie überhaupt ein wenig litt, dann eher darunter, ihn nicht genug lieben zu können, aber nicht darunter, daß er sie ganz offensichtlich nicht liebte. Sie hatte auf einmal Angst, liebesunfähig zu sein. Aber sie drängte diese Angst beiseite, bereit, sich undramatisch und leicht von ihm zu trennen.
    Und genauso kam es auch. Sie fuhren am nächsten Tag nach München zurück, und als er sie vor ihrem Haus absetzte, umarmte sie ihn und sagte: »Ich werde dich nie vergessen, Heinrich. Ich bin dir für immer dankbar.« Er küßte sie und sagte: »Du warst eine verdammt gute Schülerin. Jetzt mach was draus.«
    Als er einstieg, fragte er: »Sehen wir uns noch mal?« und Franka nickte. Sie blickte ihm nach und dachte: Mach’s gut, mein Freund, an jeder Ecke warten schon frustrierte Frauen auf dich, mach sie alle glücklich, du kannst es.
    Am Nachmittag meldete sich Franka bei Hugo und Walter zurück, die sich darüber freuten, sie wiederzusehen. Walter fragte: »Was hättest du gemacht, wenn es geknallt hätte?« Franka verstand ihn nicht. »Geknallt?« fragte sie, und Hugo war entrüstet. »Jetzt sag bloß, du hast gar nichts mitgekriegt?«
    Nein, Franka hatte nichts mitgekriegt, und sie nahm die ZEIT und den STERN der pensionierten Lehrerin mit nach Hause und las völlig verblüfft, daß in diesen Tagen, in denen sie bei Heinrich gelernt hatte, was das ist, Leidenschaft, daß in diesen Tagen die Welt am Rande eines Abgrunds gestanden hatte. »Kubakrise« hieß es in allen Zeitungen, die Kubakrise war gerade noch mal ohne Krieg bewältigt worden. An dem Sonntag, als sie nicht aus dem Bett gekommen waren, hatten die USA ihren Raketengürtel von Grönland bis in die Türkei aktiviert, weil auf Kuba sowjetische Raketen gesichtet worden waren, direkt auf die USA gerichtet. John F. Kennedy hatte in einer Rede an die Nation – »My fellow citizens« – den Ernst der Lage und »highest national urgency« angekündigt. Franka hatte an diesem Tag zum erstenmal im Freien geliebt, und es war köstlich gewesen. Fidel Castro hatte seinem Volk eingeschärft: »Patria o muerte, venceremos«, der Berater des Präsidenten hatte abfällig und kriegslüstern gesagt: »Let’s bomb them back into the Stone Age.« Da saß Franka am Ammersee mit Heinrich in der Badewanne. Die Menschen hatten Hamsterkäufe für einen möglichen Atomkrieg getätigt, die amerikanische Post hatte trotzig versichert: »Wenn nach einem Atomschlag noch was da ist, dann stellen wir auch noch Post zu!« und die Kinder hatten in den Schulen gelernt: »Duck and cover!« Eine Aktentasche oder die Schulbank über den Kopf, Augen zu und durch, wenn die Bombe fällt.
    Franka war damals noch nicht so politisiert wie einige Jahre später
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