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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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draußen glaubt sie zu hören,
daß sich jemand verabschiedet und daß eine Tür geschlossen wird. »Ja«, sagt
sie. »Mehr oder weniger.«
    »Obwohl man sich vielleicht wünschen würde, du wärst stärker gewesen
und hättest dich dem Mann widersetzt, ist seine Sünde die bei weitem größere.
Du warst ein Kind. Du bist immer noch ein Kind.«
    Zu Lindas Entsetzen steigen ihr unwillkürlich Tränen in die Augen.
Sie rinnen ihr über die Lider.
    »Es war falsch von deiner Tante, dich wegzuschicken. Ich kann mir
nicht vorstellen, wie es für dich gewesen ist.«
    Sie wiegt den Kopf hin und her. Diese Freundlichkeit, diese Güte!
Sie ist fast schmerzlicher als ein hartes Wort. Niemand hat je so mit ihr
gesprochen.
    »Es ist keine Sünde, die du beichten mußt, weil du keine Sünde
begangen hast«, fährt der Priester fort. »Verstehst du, was ich sage?«
    Sie versteht nicht. Nicht wirklich. Es widerspricht allem, was man
sie gelehrt hat.
    »Einige mögen das glauben«, sagt der Priester. Er niest einmal kurz
und bittet um Entschuldigung, dann nimmt er ein Taschentuch heraus und schneuzt
sich. »Ich bekomme eine Erkältung«, fügt er erklärend hinzu. »Möchtest du mit
jemandem darüber sprechen? Jemand, der dir vielleicht helfen könnte?«
    Sie schüttelt schnell den Kopf. »Nein«, antwortet sie.
    »Ich denke dabei an jemanden wie einen Arzt, der mit dir über deine
Gefühle sprechen könnte.«
    »Nein«, sagt sie. »Besser nicht.«
    »Ich glaube, ich könnte es einrichten, daß du mit einer Frau
sprechen kannst.«
    »Nein, lieber nicht«, antwortet sie.
    »Es ist zu schwer, solch eine Last allein zu tragen.«
    Wie ein Kind schluchzt sie tief auf, schnappt nach Luft, hat
Schluckauf. Sie wendet sich von dem Priester ab.
    Sie hört, wie der Priester aufsteht und dann den Raum verläßt. Sie
glaubt, er lasse sie allein, damit sie weinen kann, ohne von jemandem
beobachtet zu werden, aber dann kommt er mit einer Schachtel Taschentücher
zurück. Er bleibt vor ihr stehen, aber sie will die Augen nicht höher als bis
zu seinen Knien heben. Sie nimmt ein Taschentuch aus der Schachtel und schneuzt
sich. All diese Funktionen des Körpers, denkt sie.
    »Vielleicht möchtest du eine Weile allein sein«, sagt er.
    Wieder schüttelt sie den Kopf. »Ich muß in die Schule zurück«,
antwortet sie und wünscht sich nichts mehr, als von dem Pfarrhaus fortzukommen.
    »Ich verstehe«, sagt er. »Linda.«
    Sie sieht zu ihm auf. Sie hat sich getäuscht. Er sieht überhaupt
nicht wie Eddie Merullo aus. »Kannst du dem Mann vergeben?« fragt er.
    »Ich weiß nicht«, sagt sie. »Ich versuche, nicht daran zu denken.«
    »Kannst du deiner Tante vergeben?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Sie haßt«, sagt Linda. »Und das ist
schlimmer.«
    »Die Entscheidung darüber, was die größere Sünde ist, steht uns
nicht zu.«
    »Nein«, sagt sie.
    »Du wirst dich bemühen, ihnen zu verzeihen. Du wirst es versuchen.«
    »Ja«, antwortet sie und weiß, daß das vermutlich nicht der Wahrheit
entspricht.
    »Hast du Freunde?« fragt er. »Jemanden, mit dem du sprechen kannst?«
    »Ich habe einen Freund«, sagt sie.
    »Jemand, dem du vertraust?« fragt er.
    »Ja, sehr.«
    »Ist er katholisch?«
    »Nein.«
    »Nun, macht nichts.«
    »Er ist mein Leben«, sagt Linda.
    »Na, na«, sagt der Priester sanft. »Gott ist dein Leben. Dein Leben
liegt in Gott.«
    »Ja«, sagt sie.
    »Aber jetzt ist vielleicht nicht der Zeitpunkt, das zu vertiefen.
Ich nehme an, du hast eine recht gründliche religiöse Erziehung genossen.«
    Sie nickt.
    »Gründlicher, als du wolltest.«
    Sie blickt auf und sieht, daß er lächelt. Nein, er gleicht ganz und
gar nicht Eddie Merullo, denkt sie.
    Der Priester streckt die Hand aus. Sie ergreift sie, und er hilft
ihr auf.
    »Ich bringe dich zur Tür«, sagt er. »Wann immer du über dies oder
über etwas anderes mit jemandem reden möchtest, brauchst du nur anzurufen.«
    »Danke«, sagt sie. »Ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«
    »Vater Meaghan«, antwortet er. »Vergiß deine Büchermappe nicht.«
    Linda tritt auf den Gehsteig hinaus und weiß, daß der Priester sie
von einem Fenster aus beobachtet. Das Licht ist so grell und blendend, daß sie
sofort ihre Sonnenbrille aus der Tasche nimmt. Sie setzt sie auf, geht um die
Ecke zur Bushaltestelle, und als sie weiß, daß sie außer Sichtweite des
Pfarrhauses ist, beginnt sie zu weinen.
    Gegen die Wand gelehnt, wartet sie vor dem Nantasket- Gebäude.
Sie fragt sich, welcher Architekt eine
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