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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Verzweiflung. Thomas nimmt Linda
die Sonnenbrille ab, und sie blinzelt.
    »Nimm deine auch ab«, sagt sie, und er gehorcht. Sie sehen sich an.
    »Ich muß dich etwas fragen«, sagt er.
    »In Ordnung«, sagt sie, auf alles vorbereitet, seltsamerweise sogar
von ein wenig neuem Mut erfüllt.
    »Bitte sag mir, was passiert ist.«
    Aber ihr Vertrauen ist nicht echt. Sie öffnet den Mund, um zu
sprechen, und kann es nicht.
    Thomas legt den Kopf an die Lehne und schließt die Augen. Sie
streicht mit dem Finger über seine Brust. Hinter ihnen geht die Sonne unter.
Das Glitzern auf den Dünen verlischt, die Temperatur sinkt.
    »Wo hast du früher gewohnt? Vor dem Heim, meine ich?« fragt er.
    »In Marshfield«, antwortet sie.
    »Oh.«
    »Warum? Was stimmt damit nicht?«
    »Nichts. Ich schätze, es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht von
dir weiß.«
    Sie schweigt.
    »Wo bist du in den Sommerferien gewesen?«
    »Thomas.«
    »Kannst du nicht mal eine einzige lausige Frage beantworten?« Der gereizte
Unterton in seiner Stimme, den sie noch nie bei ihm gehört hat, läßt sie
erstarren.
    »Was soll das?« fragt sie.
    »Wenn du zur Beichte gehst«, fragt er, »beichtest du dann, daß du
mich deine Brüste anfassen läßt?«
    Sie zieht ihre Bluse zusammen.
    »Erzählst du dem Priester von gestern abend? Als ich deinen Rock
hochgeschoben habe?«
    Mit zusammengepreßten Lippen starrt sie geradeaus.
    »Tust du das?« fragt er.
    Sie setzt ihre Sonnenbrille wieder auf.
    »Wie sehr mußt du in die Einzelheiten gehen?«
    »Thomas, hör auf.«
    Die Diamanten auf der Windschutzscheibe sind verschwunden. Sie zieht
den Mantel eng um sich. »Bring mich nach Hause«, sagt sie.
    »Ich möchte einfach bloß wissen, was mit dir los ist«, sagt er.
    Der Wind vom Meer rappelt an den Fenstern des Skylark. Auch im
Wageninnern herrscht Frost, stellt sie fest. Beide stoßen zornige Atemwolken
aus.
    »Ich bin wütend«, sagt er.
    »Auf wen? Auf mich?« fragt sie.
    »Ja, ich bin wütend auf dich.«
    »Gut«, sagt sie und lehnt sich an die Tür. Sie beginnt, ihre Bluse
zuzuknöpfen.
    »Ich bin nicht wütend auf dich«, sagt er.
    »Das solltest du aber«, antwortet sie.
    »Warum?«
    »Ich habe dir etwas verdorben, nicht wahr?«
    »Das ist ein Märchen.«
    »Es sitzt ganz tief in dir drin. Es ist kein Märchen.«
    »Linda. Sieh mich an.«
    Sie weigert sich. »Wenn wir schon davon sprechen, nicht alles über
eine Person zu wissen, warum erzählst du mir dann nicht, warum du Drogen für
Donny T. aufbewahrst?«
    »Und was wäre, wenn ich es täte?«
    »Was dann wäre? Ja was, zum Teufel, wäre dann? Du könntest ins
Gefängnis kommen, das wäre dann.«
    »Linda, sieh mich an. Bitte.«
    Sie gibt nach und dreht sich um.
    »Es stimmt«, sagt er. »Wenn irgendwas tief drinnen in mir sitzt,
dann bist du es.«
    Sie schweigt.
    »Du bist doch meine Familie. Du bist meine Geliebte, meine Freundin
und meine Familie.« Er hält inne. »Und ich bin vermutlich die deine.«
    Das könnte stimmen, denkt sie. Das wäre möglich. Und welche
Erleichterung wäre das, denkt sie. Es wäre eine völlig neue Perspektive für
sie: Thomas als ihre Familie. Sie überwindet den großen Abstand zwischen ihnen
und berührt seine Hand.
    »Es hört sich lächerlich an, wenn du zum Teufel sagst«,
fügt er hinzu.
    Thomas öffnet die Tür des Wagens. Er greift auf den Rücksitz und
nimmt den Matchsack heraus. Linda sieht zu, wie er sich schlitternd auf den Weg
zum Strand macht. Sie setzt sich auf die Hände, um besser sehen zu können. Es
herrscht Flut, und das Wasser schwappt ihm über die Füße. Mit athletischer
Kraft schleudert er den Sack hoch und weit ins Meer hinaus. Er beobachtet, wie
er eine Weile schwimmt und dann untergeht.
    Ihr Blick schießt zwischen den vertikalen Stengeln des Dünengrases,
den horizontalen Schindeln des Hauses und den viereckigen Fensterscheiben hin
und her. Es ist ihr noch nie zuvor aufgefallen, aber es ist ein Muster. Bis
jetzt hat sie geglaubt, ihr Leben bestehe aus einer willkürlichen Folge von
Ereignissen. Daß eine Sache passiert, dann die nächste, und immer so fort.
Obwohl es die ganze Zeit ein Muster, einen Plan gegeben hatte. Einen wundervoll
ausgeklügelten Plan.
    Vor Kälte zitternd, steigt Thomas wieder ein. Er hat die Jacke an,
aber sein Hemd ist noch nicht zugeknöpft. Er reibt sich die Hände.
    »Was geschieht jetzt?« fragt sie. »Wird Donny T. nicht wütend sein?
Wieviel war da drin?«
    »Ein paar Kilo. Er wird mich wahrscheinlich auf die
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