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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Schultern gleiten. Panik ergreift sie. Es erscheint ihr
unvorstellbar, in diesem Raum tatsächlich ihre Sünden zu bekennen, während sie
beide sich den Rücken zukehren – ohne Teilungswand, ohne Beichtstuhl, ohne die
Möglichkeit, sich zu verstecken.
    »Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt«, beginnt sie, und ihre
Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
    Darauf folgt ein langes Schweigen.
    »Du hast Sünden begangen, die du beichten willst?« sagt der
Priester, um ihr zu helfen. Er hört sich zwar nicht ausgesprochen gelangweilt
an, aber vielleicht müde.
    »Vor Jahren«, sagt Linda mit rasendem Herzklopfen, »hatte ich eine
unschickliche Beziehung mit meinem Onkel. Nicht meinem wirklichen Onkel. Es war
ein Mann, den wir Onkel nannten. Ich war dreizehn.«
    »Was meinst du mit unschicklich ?«
    »Wir …« Sie überlegt, wie sie es ausdrücken soll. Wäre Unzucht treiben das richtige Wort? »Wir hatten Sex«, sagt
sie.
    Ein kurzes Schweigen tritt ein. »Du hattest Sex mit einem Mann, den
du ›Onkel‹ nanntest?«
    »Ja.«
    »Wie alt war dieser Mann?«
    »Ich weiß nicht genau. Ich glaube, Anfang Vierzig.«
    »Ich verstehe.«
    »Er lebte mit meiner Tante zusammen. Er lebte mit uns zusammen.«
    »Und wie oft hast du mit diesem Mann Unzucht getrieben?«
    »Fünfmal«, antwortet sie.
    »Hat er dich dazu gezwungen?«
    »Nein. Nicht wirklich.«
    »Hast du das schon einmal gebeichtet?«
    »Nein.«
    »Das sind schwere Sünden«, sagt der Priester. »Unzucht zu treiben
und die Sünde deinem Beichtvater zu verschweigen. Niemand weiß davon?«
    »Meine Tante. Sie hat uns überrascht. Ich wurde für lange Zeit
weggeschickt.«
    »Ah«, sagt der Priester. Das ›Ah‹ ist unmißverständlich ein Ausdruck
des Wiedererkennens. »Sprich weiter.«
    »Damit war die Beziehung beendet. Der Mann hat die Familie
verlassen.«
    »Und du glaubst, es geschah deinetwegen?«
    »Vielleicht. Ich meine, es ist wahrscheinlich.«
    Der Priester sagt lange Zeit nichts. Sein Schweigen macht sie
nervös. So sollte es eigentlich nicht ablaufen. Von draußen hört sie laufendes
Wasser und Stimmen in der Diele. Möchte der Priester genauere Einzelheiten
wissen?
    »Darf ich offen mit dir sprechen?« fragt er schließlich.
    Die Frage ist beunruhigend, und sie kann sie nicht unbefangen
beantworten. Der Priester dreht sich um und beugt sich über die Armlehne zu
ihr. »Die Sache ist ungewöhnlich«, sagt er, »aber ich habe das Gefühl, ich muß
mit dir darüber reden.«
    Linda dreht sich ebenfalls leicht herum. Aus dem Augenwinkel kann
sie den Ärmel und die blasse Hand des Priesters sehen. Es sind Sommersprossen
darauf wie bei Eddie Merullo.
    »Ich kenne deinen Namen«, sagt er. »Du bist Linda Fallon.«
    Ihr stockt der Atem.
    »Ich weiß einiges über dich«, sagt er. Er klingt jetzt freundlicher,
nicht mehr ganz so streng. »Das Individuum, von dem du sprichst, war ein
verabscheuungswürdiger Mann. Ich kannte ihn nur flüchtig, bevor er wegging,
aber ich hatte genug gesehen, und inzwischen habe ich genügend erfahren, um
mich davon zu überzeugen. Was er dir angetan hat, das hat er auch mit anderen
Mädchen deines Alters gemacht, sogar mit noch jüngeren. Er hat es wiederholt
getan. Verstehst du, wovon ich spreche?«
    Sie nickt, obwohl sie kaum glauben kann, was sie hört. Andere
Mädchen? Jüngere?
    »Man kann sagen, daß er ein kranker oder ein böser Mensch war«,
erklärt der Priester. »Wahrscheinlich beides. Aber was ich dir zu sagen
versuche, ist, daß du nicht allein warst.«
    Die Information ist so verblüffend für sie, daß ihre Welt aus den
Fugen bricht. Ihr wird schlecht, als müßte sie sich übergeben. Plötzlich fällt
ihr Eileens rätselhafte Bemerkung wieder ein: ›Es war nur dein Körper, der
gehandelt hat, und du solltest dich deines Körpers nicht schämen.‹
    »Ich kann in das Herz eines solchen Menschen nicht hineinsehen«,
sagt der Priester. »Man muß für seine Seele beten. Aber ich glaube, ich kann
mir vorstellen, was in deinem Herzen vorgeht.«
    Sie hat den Eindruck, immer weniger Luft zu bekommen, etwas scheint
sich immer enger um ihre Brust zusammenzuschnüren, bis sie schließlich Angst
hat, überhaupt nicht mehr atmen zu können.
    »Du fühlst dich verantwortlich für das, was geschehen ist«, sagt der
Priester.
    Sie nickt, sagt sich dann aber, daß er das Nicken gar nicht sehen
kann. Sie beugt sich weiter über die Armlehne nach vorn, wie der Priester es
tut, obwohl sie ihn nicht direkt ansehen will. Von
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