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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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solche Monstrosität wie diese Schule
verbrochen und geglaubt haben konnte, sie sei dem Lernen förderlich. Vielleicht
ist es doch ein Gefängnis. Gelbe Ziegelmauern reichen fast bis zur Decke hinauf
und lassen nur für schmale Oberlichter Platz. Durch jahrelange Abnutzung haben
die Metalltüren ein fahles Blau oder ein mattes Orange angenommen. Die schmalen
Fensterschlitze in den Türen sind mit Maschendraht verstärkt, zum Schutz vor
Fausthieben, wie sie vermutet. Von Zeit zu Zeit späht sie durch den Schlitz, um
zu sehen, was Thomas macht. Er sitzt mit acht anderen Schülern am Kopfende
eines langen Tischs und scheint in eine angeregte Diskussion verstrickt zu
sein. Dicke Bündel des Nantasket, die vom Verlag
geliefert wurden, stapeln sich auf den Schulbänken.
    Sie sollte überhaupt nicht hier sein. Sie hätte den letzten Bus nach
Hause nehmen, die Tür ihres Zimmers schließen und ihre Hausaufgaben machen
sollen. Sie hat am nächsten Morgen einen Mathematik-Test und muß eine Arbeit
über ein Buch abliefern, das sie noch nicht gelesen hat. Durch den Job im
Imbiß, die Eishockey-Spiele (zwei die Woche) und die Stunden, die sie mit
Thomas verbringt (absolut notwendig), hat sie immer weniger Zeit zum Lernen.
Das Gespräch mit Mr. K. in seinem Klassenzimmer wird völlig nutzlos sein, wenn
sie ihre Noten nicht hält. Früher schien sie die Schule spielend zu schaffen, aber
sie weiß, daß es eben doch nur möglich ist, wenn man sich Zeit dafür nimmt.
    Am Ende des Korridors tadelt Mr. Constantine, der sie vor Monaten in
die Schule eingeführt hat, einen störrischen Schüler mit langem Haar und
Jeansjacke. Zwar hört sie nicht, was er sagt, aber sie kann es sich vorstellen.
›Zieh keine solchen Jacken an. Laß dir die Haare schneiden.‹
    Sie denkt über die Begegnung mit dem Priester nach: es war ein
erstaunliches Erlebnis für sie, so seltsam und unwirklich, daß sie kaum glauben
kann, daß es überhaupt stattgefunden hat.
    ›Aber es hat stattgefunden‹, denkt sie. ›Ganz bestimmt.‹
    Die Tür geht auf, und Thomas kommt mit einer Ausgabe des Nantasket in der Hand heraus. Er liest im Gehen.
    »Hallo«, ruft sie.
    »Linda«, sagt er und dreht sich um. »Hallo. Ich dachte nicht, daß
ich dich hier sehe.«
    »Was hast du da?«
    »Schau her«, sagt er.
    Er öffnet die Literaturbeilage auf einer Seite, auf der ein kurzes
Gedicht von Thomas Janes abgedruckt ist. Sie liest das Gedicht. »Es ist sehr
gut, Thomas.« Es ist tatsächlich gut. »Meinen Glückwunsch.«
    »Danke. Danke.« Er verbeugt sich. »Was machst du hier?«
    »Also«, beginnt sie. »Ich hab mit Mr. K. gesprochen, und ich glaube,
ich werde mich fürs College bewerben.«
    »Wirklich?« fragt Thomas strahlend. »Wirklich?« Er drängt sie an die
Wand zurück. »Wo?«
    »In Middlebury zunächst einmal.«
    »Verdammter Mr. K.«, sagt Thomas.
    »Und im Tufts und B.C. vielleicht.«
    »Im Ernst?«
    »Ich hab die Anmeldefrist versäumt, aber er hat ein paar Anrufe
gemacht und ›meine Lage‹ erklärt, wie er es ausdrückt, und sie sind bereit,
meine Bewerbung zu berücksichtigen. Jedenfalls will man es in Middlebury tun.«
    »Er ist ein Schatz«, sagt Thomas und küßt sie.
    Jemand ruft vom Ende des Korridors herauf: »Keine Verbrüderung
zwischen den Geschlechtern während der Schulstunden.« Thomas, der Mr.
Constantine den Rücken zugekehrt hat, zieht eine Augenbraue hoch. Der
stellvertretende Direktor steht da und hat die Hände in die Hüften gestemmt.
Gleich wird er mit dem Fuß aufstampfen, denkt Linda.
    »Ist da unten was Unerlaubtes im Gang?« fragt Constantine.
    Der Parkplatz ist ein See aus Schneematsch. Die Sohlen von
Lindas Stiefeln sind durchweicht.
    »Jetzt hab ich die Schneeketten drauf«, sagt Thomas, »und
wahrscheinlich kriegen wir keinen Tag mehr unter Null Grad.« Er schließt die
Tür des Skylark auf. Im Innern ist es so ungewöhnlich warm, daß Linda sofort
den Mantel auszieht. Thomas dreht das Radio an.
    »Mit einem Schirm ist es genauso«, sagt sie.
    »Was denn?«
    »Wenn du ihn mitnimmst, regnet’s nicht.«
    »Laß uns feiern«, sagt er.
    »In Ordnung«, antwortet sie. »Wo?«
    Er trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad und überlegt. »Es gibt ein
hübsches Fischlokal namens Lobster Pot nicht weit von hier«, sagt er. »Wir
könnten zu Abend essen.«
    »Wirklich? Es ist Mittwoch.«
    »Na und?«
    »Ich schreibe morgen einen Test.«
    »Du kannst später lernen.«
    »Ich muß arbeiten.«
    »Jetzt nicht«, antwortet er und wendet.
    Sie
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