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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Mr. K.
    Zu Hause ist alles geradezu kuschelig, denkt sie.
    »Tust du mir einen Gefallen?« fragt er. »Versprich mir, daß du in
mein Klassenzimmer kommst und dir ein paar College-Kataloge ansiehst. Ist dir
Tufts ein Begriff? Die Boston University?«
    Sie nickt.
    Er bemerkt das Kreuz. »Das B. C.?« fragt er. Das katholische
College.
    Sie nickt erneut, da sie keine andere Möglichkeit sieht, als
zuzustimmen.
    »Heute nachmittag? Hast du in der achten Stunde frei?«
    »Ja.«
    »Gut. Also treffen wir uns dann.«
    »In Ordnung.«
    Er steht auf. »Was nimmst du dieses Semester durch? Das zwanzigste
Jahrhundert?«
    »Ja.«
    » Aus dem Schlaf meiner Mutter fiel ich in diesen
Zustand / Und ich krümmte mich in dessen Bauch bis mein nasser Pelz gefror.«
    Randall Jarrel. Linda lächelt.
    Sie nimmt den Bus, der direkt hinter dem Parkplatz der Schüler
hält. Der Fahrer kneift die Augen zusammen, als sie einsteigt.
    »Ich bin krank«, sagt sie. »Ich schwänze nicht.«
    Sie fährt die Main Street entlang zur Spring Street, zur Fitzgerald
Street und zur Nantasket Avenue und denkt, daß sie die Sache vielleicht gerade
noch hinter sich bringen könnte, bevor es Zeit für ihre Verabredung mit Mr. K.
ist. Sie weiß, daß sie der Mut verlassen wird, wenn sie zu lange über ihr
Vorhaben nachdenkt. Also tut sie es nicht. Dennoch drängt es sie, diesen
Botengang zu machen.
    Tauwetter. Alles um sie her glitzert, tropft und bricht, von den
Dächern fallen Eislawinen, von den Telefonmasten lösen sich lange Schnüre
gefrorenen Wassers und von den Dachrinnen phantastische Eiszapfen. Der Bus ist
überheizt, und sie öffnet ihren Armeemantel. Sie versäumt zwei
Unterrichtsstunden vor der achten Stunde und muß sich für ihre Abwesenheit eine
plausible Ausrede ausdenken. Vielleicht kann sie Mr. K. als Entschuldigung
anbringen.
    Bei der Haltestelle, die am nächsten bei St. Ann’s liegt, steigt sie
aus. Das Pfarrhaus steht neben der Kirche. Wenn dieser Drang nicht in ihr wäre,
würde sie umkehren. Sie zwingt sich, vorwärts zu gehen, obwohl sie weiß, daß
sie mit ihrem Anliegen vermutlich nur Hohn ernten wird. Dies ist das Mutigste,
was sie nach ihrem Sprung ins Meer getan hat.
    Sie steigt die Steinstufen hinauf und klopft an die schwere Holztür.
    Ein junger Priester öffnet. Sie hat ihn schon einmal in der Kirche
gesehen, aber jetzt, aus der Nähe, fällt ihr auf, daß er wie Eddie Merullo
aussieht. Sein Kragen ist schief, und er hält eine Serviette in der Hand.
    »Würden Sie mir die Beichte abnehmen?« fragt sie.
    Der Priester ist verblüfft. »Beichten werden am Samstagnachmittag
abgenommen«, sagt er nicht unfreundlich. Mit seinem rotgoldenen Haar und dem
dürren Leib könnte er ein Cousin von Eddie sein. Der brave Cousin.
»Es ist nicht Samstag«, erinnert er sie.
    »Ich weiß«, antwortet sie, »aber ich muß es jetzt tun.«
    »Ich bin gerade beim Mittagessen«, antwortet er.
    »Tut mir leid«, sagt sie und will es schon dabei bewenden lassen.
Vielleicht ist es eine Sünde, mehr zu wollen als das, worauf sie ein Anrecht
hat, denkt sie.
    »Ich werde warten«, sagt sie.
    Der junge Priester führt langsam die Serviette zum Mund. »Kommen Sie
herein«, sagt er.
    Sie tritt in die getäfelte dunkle Diele. Das einzige Licht kommt von
Glühbirnen. Es könnte genausogut Nacht sein draußen. Aus einem Raum weiter
hinten hört sie das Klappern von Besteck und eine Stimme.
    »Sollten Sie nicht in der Schule sein?« fragt er.
    »Ja«, antwortet sie.
    »Wird man sich dort Sorgen machen?«
    »Nein.«
    »In welcher Klasse sind Sie?«
    »In der letzten.«
    »Wenn wir es tun, werden Sie dann in die Schule zurückkehren?«
    »Ja.«
    »Ich werde Sie nicht nach Ihrem Namen fragen.«
    »Danke.«
    »Folgen Sie mir«, sagt er und läßt die Serviette auf einem
Dielentisch zurück.
    Sie folgt dem jungen Priester in einen kleinen Vorraum, der von
der Diele abgeht. Wenn die Kreuze nicht wären, könnte es sich um ein Zimmer
handeln, in dem ein Herrscher einen ausländischen Würdenträger empfängt. Zwei
Sessel stehen nebeneinander gegenüber vom Eingang, zwei dazu passende Sofas
entlang der Wand. Abgesehen von den Möbeln ist der Raum leer.
    Sie sieht zu, wie der Priester die Sessel in die Mitte des Zimmers
zieht, Rückenlehne an Rückenlehne, so daß sich die Leute, die darin sitzen
werden, nicht sehen können. Er macht ihr ein Zeichen, auf einem Platz zu
nehmen.
    Sie legt ihre Büchermappe auf den Boden neben den Sessel und läßt
den Mantel von den
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