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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels
Autoren: James Morrow
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schleudern, Tez. Beim Gott der Gehirne, ich werde es tun!«
    Tez dachte über diese Drohung nach und erkannte, daß sie ernst gemeint war. Sie beugte sich vor, und das Bündel rutschte von ihrem Arm, fiel in den Schnee, rollte einmal um die eigene Achse und lag dann still.
    »Soeben habe ich das Leben deiner Küchenschabe gerettet, Lostwax. Jetzt bist du mir was schuldig.« Ihre Fußspitze klopfte auf eine Brückenplanke wie im Rhythmus eines Grabgesangs.
    Francis blieb stehen. War das ein Ollie-Lärm, der aus Tez’ Bündel drang? Er war sich nicht sicher, aber er war dankbar, weil er nun einen Grund hatte, ihre Tötung hinauszuzögern. »Geh nicht auf die Brücke«, sagte er, ohne zu zögern. »Ich habe die Kabel durchschnitten.«
    Eine glatte Eiskugel, so groß wie ein Opo-Baumstumpf und offenbar ebenso schwer, streifte Tez’ Wade. Wütend bückte sie sich, hob sie mit ihrer starken Chirurgenhand hoch wie eine Kugelstoßerin. Eis traf auf Holz, und die Kabel über Tez’ Kopf rasten zur Brücke hinab. Wie ein Fensterrolladen in einem Hurrikan stürzte die Brücke in den Abgrund und zerbarst in tausend Stücke.
    Ein häßliches Lachen, begleitet von Speichel, rang sich aus Tez’ Kehle. Francis hörte sie irgend etwas von einem raffinierten Bastard murmeln, dann fuhr sie herum und stürmte nach Westen.
     
    Er blickte auf das Messer in seiner Hand. Es zitterte unkontrolliert, als wäre es mit einem verwundeten Gehirn verbunden. Hätte ich sie erstochen? fragte er sich. Hätte ich in das Fleisch geschnitten, das ich geküßt habe?
    Er sagte sich, wenn seine nächste Aktion nicht darin bestünde, Tez’ Bündel aufzuheben und die Verfolgungsjagd zu beginnen, könnte er genausogut weiter nach Cuz gehen und in diese Schlucht springen.
    Als er das Bündel aufhob, erkannte er an dessen Form und am Gewicht, daß der Cortexclavus tatsächlich wieder ihm gehörte. Er betrat den warmen Turm, packte den Käfig aus, starrte in Ollies rechtes, aus mehreren Partikeln zusammengesetztes Auge. Der Käfer wackelte mit den Antennen.
    »Mein Freund«, sagte Francis und trat das Feuer aus. »Dies ist der schlimmste Tag meines Lebens.«
    Er ging wieder hinaus, holte tief Atem. Der kalte Wind schmerzte in seinen Zähnen. Entschlossen verließ er den Abgrund und rannte in die Richtung, wo die unförmigen Schneewehen und das einbrechende Dunkel sie davongetragen hatten.
     
    Eine Stunde lang folgte er Tez’ Spuren, seichten Fußabdrücken, die durch die abendlichen Schatten bodenlos wirkten. Unermüdlich ging er weiter, ohne zu vergessen, daß sie hinter jeder Schneewehe hervorspringen, ihn anfallen könnte, und erreichte schließlich den Tolca-Tempel. Dort blieb er stehen und erschauerte wie ein Verirrter, als Iztac den Horizont berührte und dann verschwand.
    Warum der Tempel? Wäre es möglich, daß Tez zu Zolmec zurückkehrte? Doch der Gedanke verflog, als er sah, daß sie nicht zur Mauer hinaufgestiegen war. Zwei Meter vor dem nächstbesten Treppenaufgang bogen ihre Spuren zu den Grundfesten der Mauer, zu einem großen Gegenstand mit undeutlichen Umrissen ab.
    Die Temperatur sank jetzt. Auf dem Himmel leuchtete die Spielzeugkönigin auf. Francis stampfte umher, um sich zu erwärmen, rieb sich die Hände, dann nahm er seine Verfolgungsjagd wieder auf.
    Warum der Tempel? Die Frage war beantwortet, als er das dunkle Gebilde erreichte – eine nackte Männerleiche am Tor der nördlichen Zugbrücke. Unter einem üppigen Bart war der Hals aufgeschlitzt, und die Wunde sah aus wie ein lachender Mund. Blut quoll zwischen breiigen Lippen hervor. Und natürlich war die Gehirnkapsel leer bis auf kleine rote, im Sternenlicht funkelnde Pfützen. Diesmal wurde Francis nicht übel. Ob sie nun real oder holojektiert waren – die geschmacklosen Gewaltakte der Quetzalianer schockierten ihn nicht mehr. Er fühlte sich nur in seinen Absichten bestärkt. Tez mußte sterben. Das war alles. Jede andere Wahrheit verblaßte.
    Es war die leichteste Entscheidung, die er je getroffen hatte.
    Das Fallgitter war hochgezogen, die langen Fänge von der Nacht verdunkelt und gezähmt. Dahinter führte die Brücke über ein breites Band aus gefrorenem Noctus. Francis überquerte sie, stieß mit den Stiefelspitzen Schneeklumpen von den Planken, sah zu, wie sie auf das Eis hinabfielen. Hier und da war das Tauwetter des vergangenen Tages durch die Eisdecke gedrungen, hatte große, runde Teiche hineingebohrt, die den Sternenschein einzusaugen schienen und nur den matten
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