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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels
Autoren: James Morrow
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Fußbrücke nach Cuz, die den Abgrund wie ein breites Grinsen überspannte, schwankte im Winterwind. Vierzig Meter tiefer unten schimmerte ein Strom aus geschmolzenem Schnee, floß gurgelnd zum Tolca-Tempel. Ein zierliches Geflecht erhob sich von den Brückenrändern, verband die Planken mit gebogenen Kabeln, deren Enden in Steintürmen verankert waren. Auf der anderen Seite reckte die Gebirgsstadt ihre tempellosen Pyramiden in die Sonne.
    Tez, die diese Brücke zum erstenmal in ihrem Leben sah, verschwendete keinen Gedanken an die delikate Schönheit dieses Bauwerks. In ihren Augen diente es nur einem praktischen Zweck, würde sie zu den zehntausend Gehirnen von Cuz führen. Schon aus dieser Entfernung konnte sie das pulsierende Fleisch spüren.
    Sie begann zu laufen, hatte die Brücke schon fast erreicht, als sich eine knarrende Turmtür öffnete. »Hallo, Tez.« Francis’ Stimme durchfuhr sie wie ein widerwärtiger Gestank. Er trat vor, ein Sonnenstrahl fing sich in seinen schmalen Augen. »Ich habe auf dich gewartet.«
    Sie musterte ihn ohne Zorn. In ihrem kleinen dunklen Gesicht sah Francis, was er sehen wollte. Nicht die Wahnsinnige, die Mool beinahe getötet und den jungen Mann an der Straßenkreuzung mit Sicherheit geschlachtet hatte – und andere, sondern die einzigartige Frau, die er liebte.
    »Ich möchte dir eine Chance geben«, fuhr er fort und strich über einen vorspringenden Stein in der Turmmauer. »Da drin ist es warm wie in einer Backstube. Ich habe Feuermoos angezündet.« Er trat vor, berührte den Mantel über ihrer Brust, die sich heftig hob und senkte. »Komm herein – ich will dir zeigen, wie es ist, wieder zu lieben.«
    »Ich will nicht lieben.« Sie blickte auf seine Hand hinab, die sie schändete, hustete einen dicken Schleimklumpen in ihren Hals hinauf und spuckte ihn gezielt auf Francis’ Finger. »Ich will ein Nerdenmensch sein.«
    »Wie reizend«, meinte Francis und zog die gedemütigte Hand zurück.
    »Habe ich eine andere Wahl?«
    »Du kannst die Brücke nach Cuz überqueren, aber ich versichere dir, daß du es…«
    »Bereuen wirst?«
    »Ja.«
    »Natürlich erwartest du, daß ich mich jetzt für die moralische Möglichkeit entscheide. Aber ich habe etwas gelernt, mein Freund. Die Moral zählt überhaupt nichts in dieser Galaxis. Ich ordne sie irgendwo zwischen geraden Zähnen und der Fähigkeit ein, eine Melodie zu singen. Mool hat meinen Vater getötet, und beim Teufel, er verdient, was…«
    »Hat es der Mann an der Straßenkreuzung auch verdient zu sterben?«
    »Ich kann nicht für alles, was ich tue, Gründe angeben, Francis Bastard Lostwax. Irgendwann muß jeder sterben.« Sie spie die Worte hervor, zwischen geifernden Lippen. »Das nächstemal werde ich Mools Brustkorb aufreißen – als würde ich ein Huhn tranchieren.«
    Francis preßte die Hände in seinen Magen. Die Stimme, die diese grotesken Dinge sagte, kam aus einer kranken Parodie seiner Tez. Und Tez selbst war bereits tot.
    »Dann geh doch zum Teufel! Lauf nach Cuz, du stinkende Kannibalin!«
    Sie wirbelte herum, näherte sich der Brücke mit kurzen verkrüppelten Schritten. Dann veranlaßte sie irgend etwas – ein vages Gefühl – stehenzubleiben. »Du hast an diesem Ding herumhantiert«, sagte sie und spuckte auf die Planken. »Ich weiß es.«
    Francis sagte nichts.
    »Glaubst du, daß es ein verzeihlicherer Mord ist, wenn du mich nicht angreifst – wenn du mich einfach in den Tod fallen läßt?«
    Schweigen.
    Sie zeigte mit dem Daumen auf ihr Bündel. »Du hast mehr Gründe, mich zu warnen, als du ahnst! Einst habe ich dein Kind getragen – jetzt trage ich deinen Käfer.«
    »Ein Märchen, das der blinden Umia würdig wäre…«
    »Wenn ich da hinunterstürze, muß auch der Cortexclavus dran glauben. Wir werden beide zerschmettert.«
    Diesen bösen Blick habe ich schon einmal gesehen, dachte er, diesen schlauen Insektendiebsblick, den Robert Poogley immer zur Schau getragen hatte. Plötzlich fuhren Francis’ Hände ins Innere des Mantels, suchten das Feuermooshauermesser.
    Als Tez die kalte Klinge sah, fühlte sie, wie ihre anfängliche Furcht in eine seltsame Mischung aus Zorn und Genuß überging. »O Gott, ich hasse dich!« Endlich hatte sie das Richtige gefunden – kein weiteres Opfer, sondern einen bonafide-Feind.
    Der Schatten einer Wolke glitt über Francis’ Gesicht. »Gib mir dein Bündel!« Sie grinste nur. Langsam näherte er sich ihr, mit gezücktem Messer. »Ich werde es auf dich
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