Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
Schimmer blankpolierten Obsidians zurückwarfen.
    In der Ferne brannte ein grünes Licht. Francis schob mit dem Fuß den Schnee von mehreren Planken, legte sich bäuchlings darauf, schwang die Beine über den Brückenrand und ließ sich vorsichtig auf das Eis hinuntergleiten. An dem Punkt, wo es keine Wiederkehr gab, ließ er das Holz los, fiel zwei Meter tief hinab in einen weichen Schneeberg. Als er seine Sinne wieder beisammen hatte, stapfte er durch die weißen Massen – bereit, beim ersten Anzeichen, wenn das Eis unter ihm nachgeben sollte, zum Ufer zu fliehen.
    Doch der Fluß war hart wie ein Fossil. Beruhigt ging er zu Tez’ Lagerfeuer.
    Als er den ersten Eisteich übersprang, erinnerte er sich an den ersten Eindruck, den er von Noctus gewonnen hatte. Der Burggraben beherbergte das Böse – man konnte es spüren –, aber nicht das primitive geistlose Böse, das gute Seelen krank macht. Noctus war auf kreative Weise böse.
    Es war das Böse, das gezähmt und heiliggesprochen war.
    »Wer ist da?« Der Nachtwind trug Tez’ schwache Stimme zu ihm. »Kommen Sie nicht näher! Diese Türsteherin hat ein Feuermooshauermesser, das Ihren Kopf aufspalten wird.«
    Abrupt blieb er neben dem dritten Eisteich stehen. Wahrscheinlich sagte sie die Wahrheit. Welche Chance hatte er gegen eine bewaffnete, geübte Mörderin? Es wäre Selbstmord gewesen, noch weiter zu gehen.
    Während er die Strecke musterte, die ihn von Tez’ Lagerfeuer trennte, bemerkte er, daß er diese Stelle kannte – nicht aus eigener Anschauung, sondern von seinem Landkartenstudium in der Iztac-Bibliothek her. Er wußte zum Beispiel, daß Tez, die wahrscheinlich glaubte, am anderen Ufer zu kampieren, praktisch in der Mitte des Flusses saß.
    Und plötzlich wußte er auch, wie er es machen würde.
    »Ich habe Schmerzen!« rief Tez. »Ich habe mir die Hand am Kiefer dieses Bastards zerbrochen.«
    »Ich wünschte, ich könnte dich sehen«, sagte Francis und ließ Tez’ Bündel von der Schulter gleiten.
    »Ja«, antwortete sie und meinte es aufrichtig, »ich will dich auch sehen. Ich liebe dich.«
    »Ja…« Er lag nun auf den Knien, hackte mit seinem Feuermooshauermesser auf das Eis ein. In Sekundenschnelle stieß die Klinge auf Noctus. Er sägte einen Kreis hinein.
    »Du wirst mich doch nicht töten?«
    Francis hob die Eisscheibe hoch. Sternenlichtpunkte senkten sich in die dahinströmende Gallenflüssigkeit hinab. Von der Messerklinge war nur ein verkohlter, verbogener Stumpen übriggeblieben.
    »Wir – haben unsere eigene Konstellation«, stammelte Tez, »und wir haben ihr einen Namen gegeben – die Scheißkönigin…«
    Francis zog seine Handschuhe aus, öffnete den Glasmetallkäfig und packte Ollie am Brustkorb. Liebevoll streichelte er den Käfer, dann senkte er ihn in das Loch hinab, hielt in einer Schicht, die halbweich war, inne und zielte ihn auf das Lagerfeuer. »Vielleicht werden wir uns mal wiedersehen«, flüsterte er, als er Ollies Rüssel gegen die dunkle Masse stieß.
    Der Käfer reagierte wie erwartet, verhielt sich so, wie sich seine Art immer verhalten hatte und bis zum Aussterben immer verhaltenwürde, bohrte und schoß vorwärts, grub einen Tunnel durch alles, was seinen Weg versperrte.
    Wie Gewebe unter einem Chirurgenmesser begann sich das Eis zu teilen, der Einschnitt grub sich in den blauen Schnee.
    »Du hast mich als Kannibalin bezeichnet«, jammerte Tez. »Glaubst du, ich kann das kontrollieren?«
    Francis wich zurück von dem trügerischen Bächlein, gab dem Käfig einen Tritt, worauf dieser über das Eis rutschte und sich in eine Schneewehe hineinwühlte. »Es gibt einen alten Kannibalenwitz!« rief er und hoffte, sie abzulenken. »Ein Missionar sagt zu einem Eingeborenenhäuptling: >Ich habe ein schreckliches Gerücht gehört. Angeblich töten Sie Menschen und fressen sie auf.< Und der Häuptling antwortet: >Ja, das ist wahr, aber ich kenne ein Gerücht, das noch viel schrecklicher ist. Ich habe gehört, daß Sie Leute töten und sie nicht fressen.<«
    Zu spät – Tez sah den Käfer kommen. Eine zischende Fontänedampfte vom rotierenden Rüssel des Tieres hoch. Ein grausiges Geräusch, das so klang, als würde das Bettlaken eines Riesen zerrissen, durchdrang die eisige Nacht.
    Plötzlich war die Kreatur an ihr vorbeigerast, und sie starrte auf eine häßliche, silberschwarze Ritze. Aufsprühender Noctus attackierte das Lagerfeuer. Wie betäubt wandte Tez sich ab und lief zum Ufer, doch das Eis unter ihren Füßen war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher