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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels
Autoren: James Morrow
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hatten diese Krankheit, die in der alten Erdengesellschaft so weit verbreitet gewesen war, praktisch ausgerottet. Doch dann hatte man die gesamte medizinische Wissenschaft auf der Nerde rekapitulieren müssen, und da waren natürlich gewisse Prioritäten aufgetaucht, und nicht alle quietschenden Räder des Fortschritts waren mit dem nötigen Öl geschmiert worden. So wurden die wirklich unheimlichen und wirksamen Killer – Krebs, Arteriosklerose und übermäßiges Knochenwachstum – bald mit kunstvollen Techniken konfrontiert, mit Heilmethoden. Und der langweiligen Diabetes, die nur an zweiter Stelle rangierte, begegnete man mit den antiquierten Waffen des zwanzigsten Jahrhunderts. Kurz nach seinem achten Geburtstag hatte man Francis eine künstliche Bauchspeicheldrüse hinter der natürlichen eingepflanzt. Danach hatte er alle drei Monate Insulininjektionen bekommen. Wenn er sich auch nie daran gewöhnt hatte, gestochen zu werden, sein Wohlbefinden wurde von seiner Krankheit kaum beeinträchtigt, und er dachte nur selten daran. Und jetzt rächte sich die Diabetes, die in Plastikfolie hinter seinem Nabel verpackt war, mittels seiner Gene.
    Dr. Alexander schnappte sich den nächstbesten Videophon-Transmitter und bestellte kristallines Insulin aufs Zimmer. Sie erklärte der Schwester mit dem dümmlichen Gesicht präzise, wieviel sie dem Jungen verabreichen müsse, nämlich vierzig Einheiten, dann stürmte sie aus dem Zimmer. Als man eine U500-Flasche Insulin gebracht hatte, füllte die Schwester methodisch eine Spritze.
    »Sie geben ihm zuviel!« protestierte Francis.
    Als hätte er nichts gesagt, als sei er gar nicht vorhanden, durchstach die Schwester die Haut an Barrys Arm, zog den Kolben zurück, vergewisserte sich, daß sie keine Ader getroffen hatte, und injizierte die Überdosis. Nach dreißig Minuten hatte sich das einfach zu behandelnde Diabeteskoma des Jungen zu einem gefährlichen Insulinschock entwickelt. Man pumpte ausgleichende Glukose in Harrys Körper, aber die Krämpfe ließen nicht nach. Zwei Stunden später war er tot.
    Ein schrilles Wimmern brach aus Francis’ Seele hervor. Er war sich vage bewußt, daß er mit beiden Fäusten auf die Schwester einhämmerte, daß er sie unter Tränen schlug. Ein robuster Krankenpfleger stürmte herein, trennte die bebenden Gestalten voneinander und preßte Francis flach an die Wand, während die Schwester klugerweise das Weite suchte. Nachdem Dr. Alexander hereingeeilt war, bedeckte sie Barrys Leiche mit einem Tuch, das nach Käse roch.
    So endete Francis Lostwax’ zweite Begegnung mit dem Frevel der Gewalt.
    Fünf Tage lang ließ er sich nicht im Galileo-Institut blicken. Er saß auf einem halb zerbrochenen Stuhl, schluckte ätzende Schnapsmengen und blätterte in Büchern, ohne darin zu lesen. Es gibt Witwen und Witwer und Waisen, aber keine Bezeichnung für einen Vater, der seinen Sohn verloren hat. Und er sagte sich, daß für manche Dinge eben keine Wörter existieren.
    Nachdem er das Begräbnis überstanden, den Androidenhasen verbrannt und die Märchenbücher und kleinen Kleidungsstücke verschenkt hatte, wollte er zu vergessen beginnen. Zumindest sagte er sich, daß er nun bereit dazu sei. Soll ich die Krankenschwester verklagen? Dieser Gedanke verfolgte ihn mehrmals, aber schließlich gelangte er zu der Überzeugung, daß er diesen unmöglichen Todesfall so weit wie möglich aus seinem vordergründigen Bewußtsein verdrängen mußte. Und was seine Ehe betraf, so erkannte er ebenso wie Luli, daß es würdelos sei, diese nutzlose, enttäuschende Institution aufrechtzuerhalten. Ein paar Monate später waren sie einander losgeworden.
    Francis beschloß, sich in die Wissenschaft zu vergraben. Er schrieb den Essay »Das geistige Wesen der Bohnenlaus« für das ruhmreiche Journal der Evolution. Doch das ruhmreiche Journal der Evolution lehnte das Werk ab. Dann wurde es von der weit weniger geschätzten Zeitschrift Bestiarium für die Winterausgabe angenommen. Man schickte ihm einen Scheck über zwanzig Dancs, die er im Zirkus verpraßte.
    Francis benutzte die Bohnenläuse als Metapher für Phthiraptera im allgemeinen. Chemisch betrachtet, gaben die Bohnenläuse wenig Rätsel auf. Sie waren durchaus rationale Arrangements von Molekülen. Aber wie, so fragte Francis seine Kollegen, konnte man sich die Willenskraft der Bohnenlaus erklären, ihre gespenstische Fähigkeit, immer weiter zu essen, zu atmen, sich zu bewegen und weitere Bohnenläuse zu erzeugen, wenn
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