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Der Weg in Die Schatten

Titel: Der Weg in Die Schatten
Autoren: Brent Weeks
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sein. Also hatten sie Ratte hereinkommen sehen.
    Roth stand an der Hintertür und Hasenscharte knapp hinter Ratte, für den Fall, dass Azoth auf die Vordertür oder ein Fenster zulief.
    »Wo bist du letzte Nacht gewesen?«, fragte Ratte.

    »Ich musste pissen.«
    »Dann hast du aber lange gepisst. Du hast den ganzen Spaß verpasst.« Als Ratte so sprach, mit dieser absolut tonlosen Stimme, die bar jeden Gefühls war, verspürte Azoth eine Angst, die zu groß war, um sie herauszittern zu können. Azoth kannte Gewalt. Er hatte die Ermordung von Seeleuten mit angesehen, hatte Prostituierte mit frischen Narben gesehen, hatte miterlebt, wie ein Händler einen Freund zu Tode geprügelt hatte. Grausamkeit ging im Labyrinth Hand in Hand mit Armut und Zorn. Aber der tote Blick in Rattes Augen ließ ihn noch mehr wie ein Ungeheuer erscheinen als Hasenscharte. Hasenscharte fehlte von Geburt an ein Teil der Lippen. Ratte fehlte von Geburt an ein Gewissen.
    »Was hast du getan?«, fragte Azoth.
    »Roth?« Ratte deutete mit dem Kinn auf den Großen.
    Roth öffnete die Tür und sagte: »Braver Junge«, als spreche er mit einem Hund, und packte etwas. Er zerrte es herein, und Azoth sah, dass es Jarl war. Jarls Lippen waren blutig und beide Augen blau verfärbt und so geschwollen, dass er durch die Schlitze kaum sehen konnte. Ihm fehlten Zähne, und an seinem Gesicht klebte Blut, wo man ihn so heftig an den Haaren gezogen hatte, dass seine Kopfhaut blutete.
    Er trug ein Kleid.
    Azoth überlief es heiß und kalt, und Blut schoss ihm ins Gesicht. Er durfte Ratte keine Schwäche zeigen. Er durfte sich nicht bewegen. Er drehte sich um, um sich nicht zu übergeben.
    Hinter ihm stieß Jarl ein leises Wimmern aus. »Azo, bitte. Azo, wende dich nicht von mir ab. Ich wollte nicht -«
    Ratte schlug ihm ins Gesicht. Jarl fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr.
    »Jarl gehört jetzt mir«, verkündete Ratte. »Er denkt, er wird
jede Nacht gegen mich kämpfen, und das wird er tun. Für eine Weile.« Ratte lächelte. »Aber ich werde ihn brechen. Die Zeit arbeitet für mich.«
    »Ich werde dich töten. Ich schwöre es«, sagte Azoth.
    »Oh, bist du jetzt Master Blints Lehrling?« Ratte lächelte, als Azoth Jarl einen Blick zuwarf; er fühlte sich verraten. Jarl wandte das Gesicht dem Boden zu, und seine Schultern zitterten, während er leise weinte. »Jarl hat uns alles darüber erzählt, irgendwann zwischen Roth und Dawi, denke ich. Aber ich bin verwirrt. Wenn Master Blint dich als Lehrling angenommen hat, warum bist du dann hier, Azo? Bist du zurückgekommen, um mich zu töten?«
    Jarls Tränen versiegten, und er drehte sich um und griff nach Strohhalmen.
    Es gab nichts zu sagen. »Er wollte mich nicht nehmen«, gestand Azoth. Jarl sackte in sich zusammen.
    »Alle wissen, dass er keine Lehrlinge nimmt, Dummkopf«, erwiderte Ratte. »Also, es sieht folgendermaßen aus, Azo. Ich weiß nicht, was du für ihn getan hast, aber Ja’laliel hat mir befohlen, dich nicht anzurühren, und ich werde es auch nicht tun. Aber früher oder später wird dies meine Gilde sein.«
    »Früher, denke ich«, warf Roth ein. Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen und sah Azoth dabei an.
    »Ich habe große Pläne für den Schwarzen Drachen, Azo, und ich werde nicht zulassen, dass du mir in die Quere kommst«, fuhr Ratte fort.
    »Was willst du von mir?« Azoths Stimme klang dünn und heiser.
    »Ich will, dass du ein Held bist. Ich will, dass alle, die es selbst nicht wagen, mir zu trotzen, dich ansehen und zu hoffen beginnen. Und dann werde ich alles zerstören, was du getan
hast. Ich werde alles zerstören, was du liebst. Ich werde dich so vollkommen zerstören, dass mir danach niemand jemals wieder die Stirn bieten wird. Also, tu dein Bestes, tu dein Schlimmstes, tu gar nichts. So oder so, ich gewinne. Das tue ich immer.«
    Am nächsten Tag weigerte sich Azoth, die Abgaben zu zahlen. Er hoffte, dass Ratte ihn schlagen würde. Nur ein einziges Mal, und er würde vom Podest fallen, er würde lediglich eine x-beliebige Gilderatte sein. Aber Ratte schlug ihn nicht. Er hatte gezürnt und geflucht, während seine Augen lächelten, und er hatte Azoth befohlen, beim nächsten Mal das Doppelte zu bringen.
    Natürlich hatte er wieder nichts gebracht. Er hatte lediglich eine leere Hand ausgestreckt, als sei er bereits geschlagen. Es spielte keine Rolle. Ratte wütete, beschuldigte ihn, ihm zu trotzen, und krümmte ihm kein Haar. Und so ging es an jedem Abgabentag.
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