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Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Titel: Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
Autoren: Jamil Ahmad
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Ehre
    D as Wasserloch lag auf dem Gebiet der Mengals – eines Brahui-Stammes in Belutschistan.
    Eine Gruppe von sieben Männern und vier Kamelen war zu dieser Oase aufgebrochen, als die Sterne noch am Himmel leuchteten. Von ihrem letzten Rastplatz, eingebettet zwischen den kargen Sandsteingraten, waren sie bei Tagesanbruch hinaus auf die Ebene getreten. Seitdem waren die Belutschen auf ihren Kamelen Meile um Meile durch das flache, trostlose Gelände geritten, dessen Eintönigkeit nur von gelegentlichen Dünen unterbrochen wurde. Geduldig hatten sie Strecken von öligem ockerfarbenem Treibsand umgangen und hatten ihre Tiere kühn durch kratzende Dickichte von Kameldorn und glühende Salzpfannen getrieben.
    Der Sandsturm war über sie hereingebrochen, als die Kamele gerade begannen, Wasser zu wittern. Stundenlang lagen sie im Lee einer sichelförmigen Düne. Sie vermummten sich und drückten sich gegen ihre Tiere, während die Winde sie umkreischten und die Welt sich verfinsterte.
    Der Sturm endete so plötzlich, wie er angefangen hatte. Die Männer enthüllten ihre Gesichter und sogen dankbar die frische, reine Luft ein, die dem Sturm folgte, und nahmen ihren mühsamen Marsch wieder auf.
    Diesmal gingen die Männer zu Fuß. Bis zum Wasserloch war es nicht mehr weit, und die Tiere waren müde. Ging ein Kamel verloren, würde ein Mann – wenn nicht sogar zwei – ausfallen. Unter solchen Umständen war ein Kamel nicht nur kostbar, es bedeutete buchstäblich das Leben.
    Trotz ihres quälenden Durstes beeilten sich die Männer nicht. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto geduldiger wurden sie. Alle paar Schritte suchten sie den Horizont ab. Der Sturm, der gerade vorübergezogen war, hatte ihre Spuren mit Sicherheit restlos verweht, dennoch versuchten sie beim Gehen den Boden nach etwaigen Hinweisen auf Gefahr zu lesen. Es waren genau diese Situationen – wenn man müde ist, wenn der Rastplatz nahe ist –, da man sich vor dem Tod am meisten vorsehen musste.
    Seit Monaten als Rebellen gejagt, hatten sie ihre Lektion teuer bezahlt. Brauchte ein Belutsche auf der Flucht schon wenig Wasser und Nahrung, so hatten sie gelernt, mit noch weniger auszukommen. Nachdem sie einmal von den blitzenden Spiegelchen an ihren bestickten Kappen verraten worden waren, hatten sie jeden Zierrat und Schmuck von ihren Kopfbedeckungen entfernt. Das traditionelle Schwarz, Rot und Weiß ihrer Kleidung war mittlerweile durch Schweiß und Schmutz zu neutralen Tönen übergegangen. Darüber hinaus hatten sie gelernt, ohne Frauen zu leben.
    Doch das Land – ihr Land – hatte dafür gesorgt, dass ihr Leben nicht gänzlich jeder Schönheit und Farbe beraubt wurde. Es bot ihnen tausend Schattierungen von Grau und Braun, mit denen es seine Hügel, seinen Sand und sein Erdreich tönte. Behutsame Farbveränderungen fanden sich in der Schwärze der Nächte und der Helligkeit der Tage und in den kräftigen Farben der winzigen Wüstenblumen, die sich in den staubigen Sträuchern versteckten, sowie den gleitenden Schlangen und huschenden Echsen, wenn sie sich im Sand eingruben. Auch wenn jede Farbe gnadenlos aus ihrer Kleidung verbannt worden war, für die Männer erblühten Schönheit und Farbe allerorten.
    Sie waren noch ein Stück entfernt, als sie die zwei Steintürme entdeckten. Ein paar Monate zuvor, als sie das Wasserloch zuletzt besucht hatten, waren sie noch nicht da gewesen. Der Anblick bereitete ihnen ein unbehagliches Gefühl.
    Sie näherten sich vorsichtig, zwei von ihnen als Späher dem Rest der Gruppe ein gutes Stück voraus. Als sie näher kamen, sahen sie das tote Kamel mit dem schlaff auf dem Boden ausgestreckten langen Hals. Beim Anblick dieses staubfarbenen Haufens toten Fleisches zog sich die Gruppe eilig zurück und begann, einen weiten Kreis um das Wasserloch zu reiten, das gerade eben noch in Sichtweite blieb. Sie beobachteten und lauschten nach wie vor aufmerksam, und zuletzt, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sich Kilometer ringsum nichts Lebendiges regte und kein fremdartiges Geräusch das Land störte, beschlossen sie, auf die Quelle zuzuhalten.
    Mit Ausnahme ihres Anführers Roza Khan waren alle Männer bewaffnet. Sie trugen Vorderlader mit sichelförmigen Kolben. Zwei von ihnen hatten zusätzlich Krummschwerter, die ohne Scheide in ihren Gürteln aus gezwirnter Wolle steckten.
    Roza Khan war ein alter Mann. Die breitknochige und hohe Gestalt war alles, was von der Kraft und der Stärke seiner Jugend verblieben
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