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Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Titel: Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
Autoren: Jamil Ahmad
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fasste die Frau wieder etwas Mut. »Vielleicht war der Fremde gar kein Siahpad. Vielleicht hat man uns nicht erkannt«, meinte sie hoffnungsvoll. »Vielleicht hat er sein Wissen für sich behalten. Vielleicht haben sie sich nicht auf die Suche nach uns gemacht. Vielleicht haben sie unsere Spur verloren«, murmelte sie im Singsang.
    »Nein«, sagte der Mann, »sie sind hinter uns her. Ich spüre es in der Luft.«
    Der Mann behielt recht. Am Morgen des sechsten Tages, als sie gerade an einem Wasserloch ihren Schlauch füllten, sahen sie ihre Verfolger am Horizont erscheinen.
    Es war noch früher Morgen, die Luft der Wüste ungetrübt von Sandstrudeln und dem Wirbeln der Staubteufel. Die Schar war eine erhebliche Strecke von ihnen entfernt, aber es bestand kein Zweifel daran, um wen es sich handelte. Der Ehemann der Frau und deren Vater ritten auf ihren Kamelen ein kurzes Stück der Hauptgruppe voraus.
    Der Mann rief Gul Bibi zu sich heran. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sah ihr in die Augen. »Es gibt kein Entrinnen, für keinen von uns. Es hat nie ein Entrinnen gegeben. Du weißt, was ich jetzt tun muss?«
    »Ja«, erwiderte sie. »Ich weiß es. Wir haben viele Male über diesen Tag gesprochen. Aber ich habe Angst, mein Herz.«
    »Fürchte dich nicht«, sprach der Mann. »Ich werde dir folgen. Ich werde dir bald nachfolgen.« Die Frau entfernte sich ein paar Schritte und blieb, den Rücken zum Mann gewandt, stehen. Plötzlich sprach sie wieder. »Töte den Jungen nicht. Vielleicht werden sie ihn verschonen. Ich bin bereit.«
    Der Mann schoss ihr in den Rücken, noch während sie sprach. Dann lud er sein Gewehr nach und sah den Jungen nachdenklich an, der ihm, ohne zu blinzeln, entgegenstarrte. Mit einem Achselzucken wandte sich der Mann ab, ging zum knienden Kamel und erschoss es. Dann stellte er sich neben den Jungen und wartete darauf, dass die Verfolger ihn erreichten.
    Die Schar kam ans Wasserloch geritten und saß ab. Der Alte ging voraus. Er warf einen Blick auf den hingestreckten Körper seiner Tochter und sah deren Geliebten an.
    »Wer ist der Junge?«, fragte er. Seine Stimme war kalt und ohne Gefühl. Die Stimme eines Fremden. Die tintenschwarzen Falten seiner Kopfbedeckung verbargen sein Gesicht zur Hälfte, aber die Augen waren die altvertrauten, die jeder Mann des Stammes kannte. Augen, die so lebhaft wie keine anderen Zorn, Hass, Liebe, Lachen, Zuneigung und Belustigung zeigen konnten. Jetzt zeigten sie nichts.
    »Wer ist der Junge?«, fragte der
sardar
noch einmal, und seine Stimme blieb ausdruckslos, verriet nicht einmal Ungeduld.
    »Der Sohn deiner Tochter«, erwiderte der Mann.
    Der Junge stand zitternd da, während die zwei Männer über ihn redeten. Er fummelte nervös an einem kleinen silbernen Amulett, das ihm an einer grauen Schnur um den Hals hing.
    Der Ehemann der toten Frau kam näher. »Wessen Sohn ist er?«, knurrte er. »Deiner oder meiner?« Der Liebhaber gab keine Antwort, sondern sah wieder dem Alten in die Augen. »Er ist ihr Sohn«, wiederholte er und deutete dabei auf den zusammengekauerten Jungen. »Dieses Silberamulett gehörte ihr. Sie muss es ihm vor ihrem Tod umgehängt haben. Erkennst du das Amulett nicht wieder? Sie sagte immer, du hättest es ihr zur Abwehr von bösen Geistern geschenkt.«
    Der Alte sagte nichts, sondern hob einen Stein auf. Seine Genossen taten es ihm nach. Der Liebhaber wankte nicht, als der erste Steinhagel ihn traf. Sein Gesicht und die Schläfen fingen an zu bluten. Es kam ein zweiter Steinhagel, dann ein dritter, ehe er zu Boden fiel.
    Zunächst saß er mit ausgebreiteten Armen und Beinen da. Dann lag er, nur noch auf dem Ellbogen aufgestützt. Zuletzt verließ ihn auch die Kraft zu dieser letzten Geste des Stolzes, und er lag auf dem Boden ausgestreckt, seine Kleider dunkel von Blut, das ihm auch in Rinnsalen über den Rücken rann und den Boden befleckte. Die Steine prasselten weiter auf ihn ein, während die Männer ihren Kreis immer enger um ihn zogen. Die Tortur endete erst mit dem Tod, als jeder Knochen gebrochen und der Kopf bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert war.
    Nachdem sie den Liebhaber getötet hatten, wandte sich der beleidigte Ehemann zu seinen Gefährten.
    »Jetzt nehmen wir uns den Jungen vor.« Der Junge, der neben dem toten Kamel gestanden hatte, hörte dies und fing an zu wimmern.
    »Nein«, mahnte der Alte, »der Tod des Jungen ist nicht nötig. Wir werden ihn so zurücklassen, wie wir ihn gefunden haben.«
    Ein paar
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