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Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Titel: Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
Autoren: Jamil Ahmad
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war; dies und seine Erinnerungen.
    Der graue Star hatte ihn auf beiden Augen praktisch blind gemacht. Selbst bei hellstem Licht sah er nur unbestimmte, verschwommene Schatten. Hätten die Ereignisse ihn nicht gezwungen, seine Pflichten dem Stamm gegenüber wahrzunehmen, wäre er gern zur Augenklinik gegangen, die jeden Winter in einer Stadt fünfhundert Kilometer weiter südlich zur Versorgung der Wüstenbewohner eingerichtet wurde, und hätte sich behandeln lassen. Er wünschte sich, wieder Formen, Farben, Gesichter zu sehen, bevor er starb. Wenn sich die Dinge regelten, würde er sich nächsten Winter die Augen operieren lassen. Bis dahin würde er sich behelfen müssen, so gut es eben ging.
    Er war kein Kämpfer und behinderte den Rest der Gruppe mit Sicherheit in ihrer Bewegungsfreiheit. Vielleicht würden seinetwegen Männer sterben müssen. Vielleicht würden sie seine Fehlentscheidungen mit ihrem Leben bezahlen müssen.
    Dennoch war ihm durchaus klar, dass sie ihn brauchten. Sie brauchten ein Symbol, und wie alt oder in welchem Zustand es war, kümmerte sie nicht. Er würde bei ihnen bleiben, obwohl er ihnen keine besonderen Weisheiten zu bieten hatte, weder was die Wege der Wüste noch was die Listen der Menschen anbelangte. Er wusste, dass seine Männer aus Ehrgefühl und Höflichkeit alle Heldentaten ihm und alle Misserfolge sich selbst zuschreiben würden. Ebenso würden sie vor keinem Mann zugeben, dass er – ihr Häuptling – in Wirklichkeit ein bemitleidenswerter Mensch war; dass der Mann, der sie anführte, es ohne geflüsterte Hinweise von seinen Gefährten nicht einmal vermochte, sein Kamel zu lenken.
    Drei Kamele waren schlanke Reittiere mit anmutigem Hals und schlanken Beinen. Das vierte war ein Lasttier. Hässlich, stämmig und großfüßig, bekundete es seine momentane Übellaunigkeit durch grollende Knurrlaute, die seinem Magen entstiegen.
    So wie die Männer waren auch die Kamele auf die Reise vorbereitet worden. Aller Schmuck und Zierrat war entfernt, jedes unnötige Metallteil, das hätte blinken oder klimpern können, zurückgelassen worden, ihre Satteltaschen enthielten nur das Nötigste.
    Da es rund um das Wasserloch keinerlei Deckung gab, konnten sie sich ihm nähern, ohne einen Überfall befürchten zu müssen.

    Sie hielten in einiger Entfernung und luden die Wasserschläuche ab. Dann wurde ein Tier ans Wasser geführt und durfte ein paar Schlucke saufen, bevor man es wieder wegzog. Es ging das Gerücht um, alle Wasserlöcher seien vergiftet worden, damit die Rebellen sich nicht daraus versorgen könnten. Erst wenn die Tiere keine Beschwerden zeigten, schlugen die Reisenden das Lager auf.
    Es war eine althergebrachte Routine. Die Kamele mussten abgesattelt, getränkt und gehobbelt werden. Die jämmerlich mageren Proviantbeutel wurden geöffnet und schmale Rationen entnommen. Ein Mann erhielt den Auftrag, Strauchwerk zu sammeln, ein anderer, mit Hilfe von Zunder Feuer zu machen. Essen musste gekocht und eilig verzehrt werden, ehe die Sonne unterging.
    Während all dessen ging einer der Männer zum gegenüberliegenden Rand des Wasserlochs, um das tote Kamel näher in Augenschein zu nehmen. Dort entdeckte er den kleinen Jungen, der, an den Bauch des Kamels gepresst, schlief.
    Von der Hand des Mannes an der Schulter berührt, wachte der Junge sofort auf. Als er die Augen öffnete und einen Fremden sah, der ihn musterte, kniff er sie sofort wieder zu und schrie auf. Die anderen Männer kamen angerannt. Der Junge schrie, sich sträubend und windend, weiter, als sie ihn hochhoben und zum alten Häuptling trugen, der am Feuer saß.
    Nachdem der Junge vor ihm abgesetzt worden war, wandte der Alte die blinden blicklosen Augen in seine Richtung. »Hör auf zu weinen, mein Sohn«, sagte er. »Es ist nicht gut, einen Belutschen – und wenn’s auch nur ein Kind ist – weinen zu hören.«
    Der Junge verstummte augenblicklich, und Roza Khan fügte in so gütigem wie strengem Ton hinzu: »Und es gibt noch einen weiteren guten Grund, warum du nicht weinen darfst. Gejammer bei einem Mann ist wie Honig in einem Topf. So, wie Honig Fliegen anzieht, zieht Gejammer Schwierigkeiten an. Jetzt sag mir, wie kommst du hierher?«
    Der Junge blieb stumm. Endlich ergriff einer der Männer das Wort. »Er will es nicht sagen, aber die Sache ist völlig klar. Die zwei Türme und das tote Kamel sagen alles. Wir brauchen ihn gar nicht zu fragen.« Der Alte dachte eine Weile nach. »Wir können ihn nicht
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