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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder
Autoren: Douglas Starr
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Unglücksstern geboren«. Überzeugt davon, dass die Tätowierungen ihm Einblicke in eine kriminelle Subkultur ermöglichten, entwickelte er Verfahren, um die Muster auf Papier zu übertragen. Dann ordnete er sie nach Motiven und Körperstellen in Gruppen ein. Gegen Ende seiner Dienstzeit hatte er rund 2000 Tätowierungen von Hunderten von Soldaten gesammelt. Als er seine Befunde einer anthropologischen Konferenz vorlegte, schrieb die amerikanische Zeitschrift Science , es handle sich um »eines der unterhaltsamsten und lehrreichsten anthropologischen Papiere, die seit Langem erschienen sind«.
    Von da an führte seine Karriere steil nach oben. 1876 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel Précis d ’ hygiène privée et sociale (Grundriss der privaten und öffentlichen Hygiene), ein über 600 Seiten starkes Werk. Zwei Jahre später schrieb er ein ebenso gewichtiges Buch mit dem Titel Précis de médicine judiciaire (Grundriss der Rechtsmedizin), das die neue Disziplin der Rechtsmedizin behandelte und als kleines Meisterwerk gefeiert wurde. 1880 bot ihm die Universität Lyon den neu eingerichteten Lehrstuhl für Rechtsmedizin an. In dieser bürgerlichen, von Flüssen durchzogenen Stadt mit ihren hart arbeitenden Einwohnern war er bei den Studenten nicht nur wegen seines Wissens, sondern auch wegen seiner erfrischenden Begeisterungsfähigkeit und seiner Herzlichkeit beliebt.
    Aber Lacassagne löste nicht nur einzelne Kriminalfälle, ihn interessierten auch die Verbrecher – ihre Gedankengänge, ihre Subkultur und ihre Lebensweise. Warum fühlen sie sich genötigt, gegen die Regeln der Gesellschaft zu verstoßen? Warum gingen sie einen derart schwierigen Weg? Er machte es sich zur Lebensaufgabe, Antworten zu finden, und studierte die Kriminellen so gründlich, wie ein Zoologe seine Lieblingsspezies studieren würde. Er besuchte sie im Gefängnis, sammelte ihre Briefe und sezierte die Gehirne von Geköpften.
    Seine Erkenntnisse und die seiner Kollegen in Europa, Russland und der Neuen Welt wurden in der Zeitschrift Archives de l’anthropologie criminelle (Archiv der Kriminalanthropologie) veröffentlicht, die er gegründet hatte. 29 Jahre lang war sie das wichtigste Forum dieser Wissenschaft, und Gelehrte diskutierten darin die bedeutenden Entwicklungen ihrer Zeit – Tatortanalyse, Kriminalpsychologie, Todesstrafe und die Definition der Unzurechnungsfähigkeit. Außerdem enthielt die Zeitschrift viele Berichte aus der Praxis, in denen Lacassagne und seine Kollegen beschrieben, wie sie die neuesten forensischen Methoden anwandten, etwa im Fall Thodure (Leichenteile eines alten Mannes wurden in der Umgebung eines Dorfes gefunden), im Fall Pater Bérard (ein Priester wurde der sexuellen Perversion beschuldigt) und im Fall Montmerle (eine Frau wurde erhängt und mit einer Stichwunde in der Kehle vorgefunden). Es gab auch Artikel über berühmte Fälle. Ein französischer Experte für Homosexualität schrieb zum Beispiel über Oscar Wildes Prozess, in dem der Autor zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Jack the Ripper tauchte in der Zeitschrift ebenso auf wie Jesse Pomeroy, der Knabenmörder von Boston. Zweimal wurden neue über Sherlock Holmes verbreitete Geschichten besprochen (das Urteil lautete: faszinierende Methoden – aber warum nahm Holmes nie eine Autopsie vor? Außerdem zogen echte medizinische Experten ein Team von Spezialisten zurate, während Holmes allein arbeitete, abgesehen von Watson, der lediglich Staffage war). Die Zeitschrift war mit dem Bodensatz der Gesellschaft bevölkert: Dieben, Mördern, Kinderschändern – der Personifizierung degenerierter Instinkte.
    Wer Dr. Lacassagne bei einer Autopsie assistieren durfte, machte eine denkwürdige und lehrreiche Erfahrung. Die Medizinstudenten hatten im Krankenhaus zwar bereits Autopsien gesehen, aber forensische Sektionen waren etwas ganz anderes. Hier wurde ihnen der gewaltsame Tod anschaulich vorgeführt, nebst zerrissenem Gewebe und gebrochenen Knochen. Der Tod hinterlässt eine Signatur, und sie lernten, diese zu deuten und einen gewaltsamen Tod – durch Unfall, Selbstmord oder Mord – von einem friedlichen zu unterscheiden. Sie entfernten die Lungen eines Kindes und untersuchten, ob es tot geboren worden war oder seinen ersten Atemzug getan hatte. Sie erfuhren, dass eine schäumende Flüssigkeit in den Atemwegen auf Ertrinken hindeutete, dass eine Furche rund um den Hals ein Indiz für Erhängen mit einem Seil war und dass Bruchstellen an
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