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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder
Autoren: Douglas Starr
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gegenüberliegenden Stellen des Kehlkopfes die Folge einer Strangulation mit zwei Händen war. Anhand des Winkels einer Stichwunde bestimmten sie die Bewegung des Armes, der das Messer gehalten hatte, und aus einer Schusswunde die Position der Waffe. Mithilfe von chemischen Reagenzien identifizierten sie Blutflecken, Sperma, Fäkalien und Rost (der oft mit Blut verwechselt wurde). »Die Studenten strömten ihm zu«, erinnerte sich Dr. Edmond Locard, der später selbst ein angesehener Kriminologe wurde. Daher umringten die Studenten in den 33 Jahren, die Dr. Lacassagne an der medizinischen Fakultät von Lyon lehrte, ihren geliebten Professor mehrmals im Monat und beobachteten, wie er ohne Gesichtsmaske und Handschuhe in eine Leiche griff und ihnen enthüllte, was in den letzten Augenblicken des Toten geschehen war.
    Als er sich am Morgen des 13. November 1889 auf eine Autopsie vorbereitete, umringten ihn allerdings keine Studenten. Nur ein paar Assistenzärzte und Polizisten waren zugegen. Auf dem Tisch lagen die Überreste eines Menschen, der vor fast vier Monaten gestorben war. War das Gouffé? Nach der Autopsie im August, nach der die Leiche in einem anonymen Armengrab bestattet worden war, hatte ein schlauer Laborgehilfe namens Julien Calmail wohl geahnt, dass man die Leiche noch einmal benötigen würde, denn er hatte seine Initialen außen in den Sarg geritzt und der Leiche einen alten Hut auf den Kopf gesetzt, sodass man sie wiederfinden konnte.
    Neben Lacassagne standen Dr. Paul Bernard, der die erste Autopsie vorgenommen hatte, und Dr. Saint-Cyr, ein Assistenzarzt. Ebenfalls anwesend war Dr. Étienne Rollet, Lacassagnes Student und Schwager, dessen vor Kurzem vollendete Doktorarbeit sich für den Fall als äußerst wichtig erweisen sollte. Der Staatsanwalt von Lyon stand ebenso dabei wie Goron, der fest entschlossen war, das Rätsel zu lösen. Etwas größeren Abstand zur Leiche hielt der Brigadier ­Jaume, ein Kollege Gorons, und presste ein Taschentuch vor sein Gesicht.
    Man konnte Jaume keinen Vorwurf machen, denn der Anblick muss abstoßend gewesen sein. Eine vier Monate alte Leiche hat kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen. Da sie von Insekten verunstaltet wurde und mehrere Stadien der Verwesung hinter sich hat, ist sie nicht viel mehr als ein formloser Klumpen von Organen und Gewebe und seltsamen Haarsträhnen, die am Skelett hängen. Und der Gestank ist sogar noch schlimmer als das Aussehen, eine Mischung aus den widerlichsten Gerüchen – von Exkrementen, verwestem Fleisch, Sumpfwasser, Urin. Dieser Gestank dringt einem so heftig in die Nase, dass man glauben könnte, er habe die Gesichtsknochen durchbohrt. Die Reaktion darauf ist ein gewaltiges Ekelgefühl, die Nackenhaare sträuben sich, und das Nervensystem stellt sich auf Flucht ein. Es ist ein Geruch, den man nicht so leicht wieder vergisst.
    Lacassagne fiel dieser Geruch nach Hunderten von Autopsien, oft in warmen, nicht belüfteten Räumen, längst nicht mehr besonders auf. Die einzige Klage, die man von ihm und seinen Kollegen manchmal hörte, betraf die Finger, an denen dieser Geruch tagelang haften blieb.
    Lacassagne formulierte gerne kurze Lehrsätze. Einer seiner Favoriten war: »Eine verpfuschte Autopsie lässt sich nicht wiedergutmachen.« Damit betonte er, wie wichtig es war, sorgfältig und präzise zu arbeiten. Bernard hatte diesen Lehrsatz anscheinend vergessen, so schlimm sah die Leiche aus. Er hatte zwar wie empfohlen das Gehirn untersucht, doch um es zu erreichen, hatte er das Schädeldach mit einem Hammer zertrümmert, anstatt es abzusägen, wie sein Mentor es ihm beigebracht hatte. Deshalb ließ sich nun nicht mehr feststellen, ob der Schädel verletzt worden war. Den Brustkorb hatte er vorschriftsmäßig mit einem Meißel geöffnet, aber dabei hatte er das Brustbein völlig zerstört, sodass nicht mehr zu erkennen war, ob eine Brustverletzung vorhanden gewesen war. Die Organe hatte er entfernt und in einen Korb gelegt. Viele Knochen waren verschoben worden.
    Doch einerlei – der Meister musste mit dem arbeiten, was ihm zur Verfügung stand. Zuerst musste er das Alter des Opfers bestimmen. Normalerweise hätte er zu diesem Zweck mehrere Stellen untersucht. Eine davon waren die Verbindungen der Schädelknochen, aber diese waren wegen der Hammerschläge nicht mehr zu analysieren. Stattdessen widmete er sich dem Becken. Er betrachtete die Verbindung zwischen dem Kreuzbein – der dreieckigen Struktur, welche die
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