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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder
Autoren: Douglas Starr
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Ersuchen wurde jedoch abgelehnt, da das Opfer seit vier Monaten tot war und die Zuständigen davon ausgingen, dass niemand mehr die Überreste identifizieren konnte. Doch Goron, dessen Hartnäckigkeit legendär war, blieb stur. Also erhielt schließlich der einzige Mann in Lyon – vielleicht in ganz Europa –, der das Rätsel eventuell lösen konnte, den unangenehmen Auftrag, eine Leiche zu obduzieren, die bereits seziert worden und in einem Grab verwest war.
    Dr. Jean-Alexandre-Eugène Lacassagne war in seinem Fachgebiet bereits hoch angesehen, als er mit dem Fall betraut wurde, der ihn weltberühmt machen sollte. Als einer der führenden Gelehrten und Innovatoren im Bereich der Gerichtsmedizin hatte er dazu beigetragen, dass bei der Tatortanalyse viele neue Techniken angewandt wurden. Er konnte beispielsweise feststellen, wie lange eine Leiche schon verweste, und eine Patrone einer bestimmten Waffe zuordnen. Er zeigte Ermittlern, wie sie anhand von Blutflecken auf der Haut herausfinden konnten, ob eine Leiche transportiert worden war. Und er entwickelte ein Verfahren, mit dem selbst einfache Landärzte professionelle Autopsien vornehmen konnten, wenn sie an einen Tatort gerufen wurden.
    Kollegen bewunderten ihn aber nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Beiträge, sondern auch als Gelehrten, Lehrer und Freund. Und wie es damals üblich war, glaubten sie, sein Charakter spiegle sich in seiner edlen Erscheinung wider: hohe Stirn, Schnauzbart, ein Leibesumfang wie ein Bürgermeister, ein »starker, rhythmischer Schritt und immer fröhliche Augen«. Bei seiner Energie und seinem Talent hätten ihm alle Wege offengestanden, doch er hatte sich für das neue Fachgebiet der Kriminologie entschieden, weil es seiner Meinung nach die ganze Skala menschlicher Erfahrungen umfasste, von der Arbeitsweise des Gehirns bis zu den Kräften, welche die Zivilisation formten. Aber selbst das beschäftigte nur einen Teil seines Intellekts. Er vertiefte sich auch in die Dichtkunst, die Philosophie, die Literatur und die Kunst. Er zitierte Dante seitenlang aus dem Gedächtnis – und zwar das italienische Original – und konnte aus den Werken seiner französischen Lieblingsdramatiker ganze Akte auswendig vortragen. Er unterstützte junge Künstler und wurde nie ohne Buch gesehen – entweder las er es oder er schrieb es. Seine Freunde bezeichneten ihn als typischen Renaissancemenschen, abgesehen von einer Schwäche: Er hatte nichts für Musik übrig.
    Lacassagne wurde 1843 in Cahors, einer ruhigen Stadt in Südwestfrankreich, geboren. Seine Eltern führten eine Gastwirtschaft. Er war ein begabter Schüler, aber zu arm, um sich selbst eine Ausbildung finanzieren zu können, daher besuchte er die medizinische Hochschule des Militärs in Straßburg, wo er seine erste Doktorarbeit über die Nebenwirkungen von Chloroform schrieb. In Paris studierte er ein Jahr lang militärische Medizin, dann kehrte er mitten im französisch-preußischen Krieg nach Straßburg zurück. 39 Tage lang bombardierten die Deutschen die Stadt, bevor sie kapitulierte. Als ein Gebäude nach dem anderen einstürzte, richteten Lacassagne und seine Kollegen eine Klinik im Keller des Krankenhauses ein. Sie schichteten Matratzen vor den Fenstern auf, da heftige Explosionen rundum Trümmer und Schutt durch die Luft schleuderten. Im September evakuierte eine Schweizer Delegation die Verwundeten und die Ärzte und brachte sie in ein Hospital nach Lyon. Zum ersten Mal sah Lacassagne die Stadt, die seine Heimat und eine Welthauptstadt für die Erforschung des Verbrechens werden sollte.
    Da die medizinische Hochschule in Straßburg zerstört war, setzte Lacassagne sein Studium in Montpellier fort. Er schrieb eine Doktorarbeit über Verwesung und begann sich für biologische Phänomene zu interessieren, die sowohl Lebende als auch Tote betrafen. Um seine Wehrpflicht zu erfüllen, reiste er nach Algerien, wo er Arzt in einer Disziplinarbrigade wurde. Normalerweise wäre das ein langweiliger Posten gewesen, aber nicht für einen Mann mit einem so lebhaften Verstand. Er war fasziniert von den Missetätern, die ihm anvertraut wurden. Viele trugen seltsame exotische Tätowierungen: Johanna von Orl é ans, die Waage der Justitia, von Messern durchbohrte Herzen, zwei Hände, um die sich eine Blume wand, und nackte Frauen mit karikaturhaften Proportionen. Die Sprüche waren ebenso bemerkenswert: »Kein Glück«, »Tod den untreuen Frauen«, »Rache oder Tod«, »Unter einem
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