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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg
Autoren: Serno Wolf
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sind.«
    »Wie Ihr wünscht, Ehrwürdiger Vater.« Gaudeck tat zwei Schritte und erstarrte mitten in der Bewegung. Die ganze Tragweite der Bitte wurde ihm erst jetzt bewusst. Ungläubig hob er die Hände. »Eure letzten Stunden?«
    Rasch trat er ans Bett. »Ehrwürdiger Vater, Ihr macht einen Scherz!«
    »Ich scherze nicht.«
    »Ihr wolltet doch immer hundert Jahre alt werden, und ich bin sicher, dass Ihr das ...«
    »Gib dir keine Mühe, mein Sohn«, unterbrach ihn Hardinus sanft, »du warst noch nie ein guter Lügner. Tue lieber, um was ich dich bitte.« Sacht legte er Gaudeck seine Hand auf den Kopf. »Und freue dich mit mir, dass Gott mich nicht vergessen hat.«

    Pater Thomas, der Prior und Arzt des Klosters, wurde am Ausgang des Refektoriums von der Nachricht überrascht, gerade als er auf dem Weg zum Herbularium war, dem medizinischen Kräutergarten. Hier hatte er nach einigen seiner Neuzüchtungen sehen wollen, die er aus dem Schwarzen Senf und dem Ruchgras gewann. Sie standen zur Zeit im Mittelpunkt seiner Forschungen, und er durfte von sich behaupten, mit ihnen schon einige beachtliche Erfolge gegen den Rheumatismus erzielt zu haben.
    »Nein!«, war das einzige Wort, das er hervorbrachte, als er die Botschaft vernahm. Seine hohe Gestalt schien plötzlich von aller Spannkraft verlassen. »Es ist unvorstellbar ...«, murmelte er verstört, »einfach unvorstellbar.«
    Seine Hände suchten an der Gebäudewand Halt. Schwarzer Senf und Ruchgras waren vergessen. »Doch des Allmächtigen Wille geschehe.«

    Pater Cullus, ein überaus dicker, freundlicher Mann, saß in seiner Zelle und freute sich auf ein paar erbauliche Stunden in strenger Abgeschiedenheit. Er wollte sich wieder einmal mit den Werken des Publius Ovidius Naso beschäftigen, jedoch nicht mit den bekannten Metamorphosen, sondern mit der Ars amatoria, dem Lehrbuch des Liebens. Mit einer Lektüre also, die sich für ihn verbot, denn sie war nicht nur heidnisch, schlimmer noch, ihr Genuss kam einer Sünde gleich. Doch auch Pater Cullus war nur ein Mensch, und wer ihn zur Rede gestellt hätte, warum er Ovid lese, dem hätte er geantwortet, dass es nur wegen des herrlich elegischen Versmaßes sei. So war er mit sich und der Welt zufrieden, zumal ihm eine gut gefüllte Schüssel rotbackiger Äpfel Gesellschaft leistete. Da donnerten jählings Faustschläge gegen seine Tür, und eine hektische Stimme rief: »Bruder, Bruder!«
    Cullus schreckte auf. »O tempora, o mores!«, rief er.
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Abt Hardinus liegt im Sterben! Kommt schnell zu seiner Schlafkammer!«
    Mit einer für seine Leibesfülle erstaunlichen Geschwindigkeit sprang Cullus auf die Füße, versteckte das Buch, ergriff geistesgegenwärtig noch einen Apfel und eilte hinaus.

    Unweit des Klosters, in einem hölzernen Verschlag, der gewöhnlich ein paar Ziegen als Unterschlupf diente, kniete ein junger Mann von zwanzig Jahren. Er hatte eine Reihe chirurgischer Instrumente vor sich im Stroh ausgebreitet und wirkte sehr konzentriert. Neben ihm hockte ein Knabe, der angestrengt auf einen kleinen Hütehund einsprach:
    »Ruhig, Pedro, ganz ruhig, gleich ist es vorbei.« Der Schwanz des Hundes klopfte wild auf den Boden. Es war unverkennbar, dass die Unsicherheit des Knaben sich auf das Tier übertrug. »Ich weiß nicht, ob ich ihn halten kann!«, jammerte er laut.
    »Du
    kannst
    es.«
    Der
    Jüngling
    prüfte
    zwei
    verschiedengroße Lanzetten und entschied sich für die kleinere. »Du musst dem Hund den Fang so weit wie möglich aufhalten, nur dann komme ich heran und kann die Entzündung aufstechen.«
    »Werdet Ihr ihm sehr wehtun?«, fragte der Knabe ängstlich. »Nein, es wird nur ein kurzer Schmerz sein. Wenn es ein Stielabszess ist, was ich vermute, kommt es nur darauf an, den Eiterkanal richtig zu treffen.«
    »Und dann?«
    »Dann weicht der Druck aus der Wunde, weil die kranken Säfte abfließen können. Es wird eine große Erleichterung für Pedro sein.«
    Die Stimme des Jünglings war ruhig, ebenso wie seine Bewegungen. Nichts deutete daraufhin, dass er innerlich ähnlich erregt war wie der Knabe. Diese Fähigkeit, sich zu beherrschen, war eine Eigenart an ihm, die ihn älter wirken ließ, als er an Jahren war. Er hob die rechte Hand und führte das Instrument behutsam gegen die linke Innenseite der Lefze. Ein schneller, entschlossener Stich, eine Drehung, und der Hund heulte auf.
    »Pedro, es ist schon vorbei!«, schrie der Junge erleichtert. Der kleine Mischlingsrüde
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