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Martha im Gepaeck

Martha im Gepaeck

Titel: Martha im Gepaeck
Autoren: Ulrike Herwig
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1 Karen sah aus dem Fenster auf die Straße hinunter, wo ihr Mann Bernd gerade den letzten Koffer in den Van wuchtete und sich zufrieden die Hände rieb. Sie schloss das Fenster und ließ ein letztes Mal ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Die Blumen waren gegossen, der Wohnungsschlüssel bei der Nachbarin Frau Wachowiak. Alles war leidlich aufgeräumt, damit die Wachowiak nicht in Ohnmacht fiel. Das Zimmer ihres Sohnes Mark zugeschlossen, damit die Wachowiak gar nicht erst hineinkonnte. Der Hamster war bei einer Kindergartenfreundin ihrer Tochter Teresa. Die letzte Milch hatte Karen gerade in den Ausguss gekippt, damit sie bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub kein Geruch nach altem Käse erwartete.
    Es konnte losgehen.
    Sonnenbrillen, Wasserflaschen, Autoatlas von Deutschland und Großbritannien und das nötige Kleingeld hatte Bernd vorn im Auto. Und natürlich seinen heißgeliebten Reiseführer. Wahrscheinlich suchte er darin schon nach einem lauschigen Plätzchen fürs Abendessen. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie in den letzten Wochen die Worte »Dann gönnen wir uns aber mal ein leckeres englisches Roastbeef« aus seinem Mund gehört hatte.
    Karen seufzte und ging in den Flur. Ein letzter Blick in den Spiegel, der ihr eine urlaubsreife Bankangestellte Anfang vierzig zeigte, die kastanienbraun gefärbten Haare nachlässig zum Pferdeschwanz zusammengezwirbelt, dazu ein dunkelblaues T-Shirt und hellgraue Dreiviertelhosen. Im Laden hatten sie noch schmeichelhaft ausgesehen, zu Hause verwandelten sie Karen auf heimtückische Weise in eine Art zweibeinigen Kartoffelsack. Egal. Sie fuhren nicht zur Modenschau, sondern in die schottischen Highlands. Der Urlaub würde ihr guttun. Sie hatte ihn jedenfalls dringend nötig.
    »Karen!«, rief Bernd ihr unten auf der Straße entgegen, als sie mit einer Kühlbox aus dem Haus trat. »Leg doch mal die Sonnencreme gleich vorne ins Auto, die Sonne sticht ja jetzt schon.«
    Die Hitzewelle hatte vor einer Woche begonnen und war mittlerweile völlig außer Kontrolle geraten. Die Leute lagen wie narkotisiert am Badestrand oder suchten erschöpft Zuflucht unter schattigen Bäumen. Glückspilze wie die Thiemes hingegen durften ins herrlich kühle schottische Hochland fahren. Während sich die Deutschen in Dampf auflösten, würde Familie Thieme an frischer, klarer Luft am Loch Ness stehen und Ausschau nach dem Ungeheuer halten – ja, sich am Abend vielleicht sogar eine Jacke anziehen müssen.
    »Mama«, rief Teresa aus dem Autofenster. »Hast du mein Schlafschwein?«
    Karen hastete wieder hoch in die Wohnung. Wo war das blöde Schwein? Sie kroch auf Knien durch Teresas Zimmer und fand es unter dem Bett. Sie konnte hören, dass Bernd unten kontrollierte Hupsignale entsandte. Sonst kamen sie nie vom Fleck, behauptete er immer. Er musste ja auch nicht jedes Mal in letzter Minute noch irgendwas finden. Karen hetzte wieder runter, vorbei an der alten Frau Zinsler aus dem Erdgeschoss, die gerade ihre Post holte.
    »Wo soll’s denn hingehen?«, rief sie neugierig.
    »Schottland«, rief Karen zurück und stieg in den Van. Im Rückspiegel erblickte sie Mark, ein verkabeltes Wesen, dem elektronische Geräte wie zusätzliche Körperteile anhafteten. Er hatte etwas aus dem Kofferraum geholt und schleppte sich mit letzter Kraft wieder zum Rücksitz, auf den er sich stumm fallen ließ. Bernd trommelte bereits mit den Fingern aufs Lenkrad.
    »Okay«, sagte Karen. »Wir können.« Sie warf im Fahren einen Blick auf ihren Wohnblock, vor dessen Haustüre die Zinsler jetzt stand und ihnen stirnrunzelnd hinterhersah. Wie Bienenwaben, dachte Karen. Die Fenster sind wie Bienenwaben, hinter denen lauter emsige, neugierige Arbeitsbienen lauerten. Irgendwann würden sie hier ausziehen. In ein eigenes Haus. Wenn Bernd sich einen besseren Job gesucht und Karen im Lotto gewonnen hatte, wenn sie nämlich Tante Marthas Erbe … Nein, so etwas sollte sie nicht denken. Das war pietätlos. Tante Martha lebte schließlich noch und wartete wahrscheinlich gerade in diesem Moment auf sie. »Wir müssen nur noch schnell bei Tante Martha vorbei und uns verabschieden«, sagte Karen.
    Von dem bisschen Fahren durch die Stadt war das Auto bereits so bullig warm geworden, dass Karens Schenkel an den Ledersitzen festklebten. Nachdem sie zehn Minuten durch die Hitze gegondelt waren, hielten sie vor Tante Marthas Haus. Mit einem schmatzenden Geräusch befreite Karen sich vom Sitz und stieg aus.
    »Lass um Gottes
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