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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg
Autoren: Serno Wolf
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sehr unwahrscheinliche Möglichkeit, wenn Ihr mich fragt, Onkel.«
    »Ja, mein Junge, dennoch: In diesem Fall wärst du kein Collincourt. Und so lange nicht erwiesen ist, dass Jean es war, die ihr Kind in dem roten Damasttuch vor Campodios aussetzte, so lange fehlt auch das letzte Glied in der Beweiskette um deine Herkunft.«
    »Das schreckt mich nicht.« Vitus erhob sich und erneuerte die Kerzen im Kandelaber auf dem Spieltisch.
    »Für mich ist nur das Gefühl wichtig, hier meine Wurzeln gefunden zu haben - wenn auch die Verwandtschaftsverhältnisse ein wenig verwirrend sind.«
    »Man muss sie kennen, dann ist es ganz einfach.« Der Lord lächelte und hielt Vitus seinen Pokal zum Nachschenken hin. »Wenn man von einigen sehr entfernten Verwandten und meiner Wenigkeit absieht, gibt es nur noch Thomas, Arlette und dich. Thomas und Arlette sind auf der anderen Seite des Meers - bleibst also nur noch du.«
    »So glaubt Ihr, dass ich Jeans Sohn bin?«
    »Natürlich. Ich spüre es genau. Schon damals, als Pembroke mit hängenden Schultern zurückkam, um Bericht zu erstatten, hatte ich das feste Gefühl, dass in dieser Sache noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Irgendwann, das wusste ich, würden Jean oder ihr Kind wieder auftauchen.«
    »Was spielte eigentlich Lord Pembroke für eine Rolle?«
    »Allan Pembroke war ein alter Freund der Familie, der als Kind noch deinen Urgroßvater James gekannt hat. William hatte ihm mal eine hohe Summe geliehen, als er Spielschulden begleichen musste. Seitdem hatte mein Bruder bei ihm eins gut. Ich kann mich noch erinnern, wie Pembroke sich drehte und wand, um Jean nicht hinüberbringen zu müssen, aber letzten Endes kam er nicht aus dieser Verpflichtung heraus. Er heuerte dann mit unserem Geld eine Besatzung an und stach mit Jean auf seiner Thunderbird in See. Das Weitere weißt du. Vielleicht noch so viel: Bei Pembrokes Rückkehr gab es nicht nur helle Aufregung um Jeans Verschwinden, sondern auch einen heftigen Streit um die hohen Schiffsreparaturkosten in Vigo. Pembroke wollte das Geld ersetzt haben, William dagegen verlangte die Summe für die Besatzung zurück, da Pembroke seinen Auftrag nicht erledigt hatte. Nun ja, zwei Jahre später starb William aus Gram über das spurlose Verschwinden seiner Tochter. Das jedenfalls behauptete Elisabeth, seine Frau, die ihm drei Jahre später folgte.« Eine Pause trat ein.
    Vitus, dessen Gedanken immer wieder um Arlette kreisten, sah, dass der alte Herr müde wurde. »Sagt, Onkel, es ist doch seltsam, dass Arlette ebenfalls in die Neue Welt wollte, genau wie Jahre zuvor Jean?«
    »Ach, Arlette, meine Arlette ... Sie ist ein Temperamentsbündel, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Wenn sie strahlt, erhellt sich das Zimmer, wenn nicht, herrscht Finsternis überall. Sie ist noch sehr jung, Vitus, und sprunghaft in ihrem Verhalten. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass es für sie eines Tages zur wichtigsten Sache der Welt wurde, nach Roanoke Island zu gehen und Thomas, ihren Verwandten, kennen zu lernen. Vielleicht wollte sie auch einfach heraus aus dem Einerlei des Landlebens. Ich weiß es nicht. Du kannst mir jedenfalls glauben, dass ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt habe, aber gegen Arlette ist kein Kraut gewachsen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«
    Draußen in der Dunkelheit begann es zu schneien. Dicke Flocken sanken in stetiger Flut herab, sanft, weiß, alle Geräusche dämpfend. Zum Weihnachtsfest würde Schnee liegen. Der alte Mann fröstelte und versuchte aufzustehen. Vitus sprang hinzu und half ihm.
    »Danke, mein Junge. Ich bete jeden Tag darum, dass der Allmächtige über Arlette wacht.« Er trat mit vorsichtigen Schritten an den Kamin und streckte seine Hände der Wärme entgegen. Im Schein der heruntergebrannten Glut sah sein Gesicht sehr alt aus. »Nicht wahr, du wirst bei mir bleiben und sie eines Tages zurückholen?«
    »Das werde ich«, sagte Vitus fest.

Epilog

    D er Winter anno 1577 kam mit klirrendem Frost. ]
    Schon Mitte Januar waren Flüsse und Seen von einer dicken Eisschicht bedeckt. Ein scharfer Nordwestwind blies, und es schneite tagelang. Die Landschaft versank unter Massen von Schnee. Jeglicher Verkehr kam zum Erliegen, und wer dennoch gezwungen war, sein Haus zu verlassen, der musste sich Schritt für Schritt vorankämpfen, wobei ihm der Atem in weißen Wolken vor dem Gesicht stand. Glücklich konnte sich schätzen, wer vorgesorgt hatte und über wohl gefüllte
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