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Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer
Autoren: Gabriel Ferry
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sagte: »Bist du es, Tiburcio? Ich erwarte dich!«
    Konnte ein hellsehender Geist aus der anderen Welt seine Rückkehr aus so weiter Ferne wissen?
    »Bist du es, Rosarita?« rief Fabian mit bestürzter Stimme aus. »Oder ist es nur eine trügerische Erscheinung, die wieder verschwinden wird?« Und Fabian blieb regungslos und wie festgewurzelt stehen, so sehr fürchtete er, dieses Bild verschwinden zu sehen.
    »Ich bin es wirklich«, sagte die Stimme.
    »O mein Gott! Die Prüfung wird noch schrecklicher werden, als ich es zu denken wagte«, sagte Fabian in seinem Innern.
    Und er tat einen Schritt vorwärts; doch blieb er sogleich wieder stehen – der arme junge Mann hoffte nichts mehr.
    »Durch welch ein Wunder des Himmels finde ich dich hier?« rief er aus.
    »Ich komme jeden Abend hierher, Tiburcio«, erwiderte das junge Mädchen.
    Diesmal begann Fabian viel heftiger vor Liebe und Furcht zu zittern.
    Wir haben gesehen, daß Rosarita bei ihrem Zusammentreffen mit Fabian sich lieber der Gefahr, zu sterben, ausgesetzt hatte, als ihm zu gestehen, daß sie ihn liebe. Seitdem hatte sie so viel gelitten und so viel geweint, daß die Liebe diesmal stärker war als die Scham. Die Jungfrau zeigt zuweilen eine Kühnheit, die von ihrer Züchtigkeit geheiligt wird. »Komm doch näher, Tiburcio«, sagte sie; »siehe, da ist meine Hand.«
    Mit einem Sprung lag Fabian zu ihren Füßen und drückte krampfhaft die Hand, die sie ihm reichte; aber vergebens versuchte er zu sprechen.
    Das junge Mädchen senkte einen Blick unruhiger Zärtlichkeit auf ihn. »Laß mich sehen«, sagte sie, »wie sehr du dich verändert hast, Tiburcio ... O ja, der Schmerz hat seine Spur auf deiner Stirn zurückgelassen, aber der Ruhm hat sie edler gemacht. Du bist ebenso tapfer wie schön, Tiburcio; ich habe mit Stolz erfahren, daß die Gefahr dich niemals hat erbleichen lassen.«
    »Du weißt, sagst du?« rief Fabian aus. »Aber was weißt du denn?«
    »Alles, Tiburcio, bis auf deine geheimsten Gedanken. Ich habe alles gewußt, sogar dein Kommen heute abend ... Begreifst du das? ... Und da bin ich!«
    »Ehe ich dich zu verstehen wage, Rosarita – denn diesmal würde mich ein Mißverständnis töten«, sprach Fabian, der von den Worten und der zärtlichen Miene des jungen Mädchens bis auf den Grund seiner Seele erschüttert war, »– willst du mir eine Frage beantworten ... wenn ich sie an dich zu richten wage?«
    »Wage es nur, Tiburcio«, antwortete Rosarita, deren keusche, reine Stirn vom Mond erleuchtet wurde; »ich bin hierher gekommen, um dich anzuhören.«
    »So höre denn«, sagte der junge Graf. »Vor sechs Monaten hatte ich zugleich den Tod meiner Mutter und den des Mannes zu rächen, der mein Vater gewesen war: Marcos Arellanos – denn wenn du alles weißt, so weißt du auch, daß ich nicht mehr ...«
    »Du bist für mich immer nur Tiburcio«, unterbrach ihn Rosarita; »ich habe Don Fabian von Mediana nicht gekannt.«
    »Der Unglückliche, der seine Verbrechen büßen sollte, der Mörder von Marcos Arellanos – mit einem Wort Cuchillo – bat mich, ihm das Leben zu schenken. Ich konnte seine Bitte nicht gewähren, aber er rief: ›Ich fordere es im Namen Doña Rosaritas, die Euch liebt, denn ich habe gehört ...‹ Der Flehende hing über einem Abgrund; ich wollte ihm aus Liebe zu dir vergeben, als einer meiner Gefährten ihn hinunterstürzte. Hundertmal habe ich mich in der Stille der Nacht dieser flehenden Stimme erinnert, ich habe mich ängstlich gefragt: ›Was hat er denn gehört?‹ Jetzt richte ich heute abend dieselbe Frage an dich, Rosarita.«
    »Einmal, ein einziges Mal hat mein Mund das Geheimnis meines Herzens verraten; es war hier an derselben Stelle, als du unsere Wohnung verlassen hattest. Ich werde dir wiederholen, was ich gesagt habe.«
    Rosarita schien ihre Kräfte zu sammeln, um einem Mann zu sagen, daß sie ihn liebe, und es ihm in klaren, leidenschaftlichen Ausdrücken zu sagen. Ihre keusche, von jener jungfräulichen Unschuld strahlende Stirn, die nichts fürchtet, weil sie nichts kennt, richtet sich auf Tiburcio. »Ich habe zuviel an einem Mißverständnis gelitten«, sagte sie, »als daß noch ein solches unter uns stattfinden dürfte; ich werde also meine Hände in deine Hände legen, meine Augen auf deine Augen richten und so dir wiederholen, was ich gesagt habe. Du flohst vor mir, Tiburcio; ich wußte, daß du fern warst; ich glaubte, daß Gott allein mich hörte, und habe ausgerufen: ›Komm zurück, Tiburcio,
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