Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Autoren: Petra Tessendorf
Vom Netzwerk:
eseben nicht so war wie zu Hause. Unter dem Herd war eine riesige Gasflasche versteckt, die Betten waren klein und hart, das Wasser kalt. Das Klohäuschen draußen neben der alten Eibe hatte ein Herz in der Tür, durch das Thorvald dicke, behaarte Spinnen und Erdkröten geworfen hatte, während Olga auf dem Klo saß.
    Ob das Stück Land im Wald wirklich im Besitz der Familie war oder ob Hagen Ambach aus der Bezeichnung »umzäuntes Grundstück« ein Besitzrecht herleitete, war ungewiss. Es fragte niemand danach.
    Jetzt allerdings, nach vielen Jahren und jenseits der verklärten Kindheitserinnerungen, erschien Olga das Haus deutlich kleiner und ganz schön zusammengeschustert. Als Kind war ihr nie aufgefallen, dass alle Fenster eine unterschiedliche Bauweise hatten, dass der Holzboden einer Patchworkarbeit oder einem unvollendeten Puzzle glich und überhaupt nichts zusammenpasste.
    Hier war intensiver gelebt worden als zu Hause. Das hatte Olga erst begriffen, als sie längst erwachsen gewesen war und den Wald verlassen hatte. Hier war man naturverbunden und genießerisch zugleich, und die Lebenslust kannte keine Grenzen.
    Jede freie Minute hatte sie früher hier verbracht. Manchmal allein, oft mit ihrer Familie, mit Thorvald und Benno, Hanna und den anderen. Auch Thorvalds Eltern, die aus Island stammten, fanden sich oft hier ein, hatten die Lichtung mit dem inzwischen recht komfortablen Haus für sich entdeckt. Die Tatsache, im Besitz eines herrlichen Anwesens zu sein, oder es zumindest uneingeschränkt nutzen zu können, diesen Luxus, einen so zauberhaften Zufluchtsort unweit der Großstadt zu haben, das genoss man ganz bewusst und ausschweifend.
    Wie im Schnelldurchlauf eines Videos huschten die Erinnerungendurch Olgas Kopf. Längst vergessene Szenen, an die sie nicht mehr gedacht hatte, seit sie fortgegangen war. Die Bilder ihrer Kindheit hatten das Stückchen Erde hier nie verlassen, weil Olga sie nicht mitgenommen hatte. Geduldig auf Olgas Rückkehr wartend, hingen sie im wiegenden Gras und krabbelten nun wie ausgehungerte Zecken an ihr hinauf.
     
    Sie blieb stehen und seufzte. Ihr wurde plötzlich mehr denn je bewusst, wie schön diese Zeit, wie glücklich und zufrieden sie hier gewesen war. Alles hatte sich geändert. Olga war raus aus dem Geschehen. Raus aus dem Wald, aus dem Haus ihrer Eltern und dem wärmenden Nest, aus dem sie unmittelbar, nachdem sie das Abitur gemacht hatte, mit kräftigen Flügelschlägen davongeflogen war, um ihr eigenes Leben zu leben. Olgas Mutter und ihre Schwester Lissy waren ebenfalls fortgezogen und seit der Trennung ihrer Eltern hatte ihr Vater die Hütte mehr oder weniger vergessen. Er lebte inzwischen mit einer Tänzerin zusammen, die zehn Jahre jünger war als Olga. Das Glück der Vergangenheit war verflogen, die paradiesische Unschuld der Kindheit wehmütig in der Erinnerung eingezäunt. Zurückgeblieben war ein kleines ramponiertes Häuschen, das umso trauriger wirkte, je länger es leer stand.
    Olga beschleunigte ihren Schritt, entschlossen, sich nicht jetzt schon von Gefühlsausbrüchen mitreißen zu lassen. Sie ließ die Häuser hinter sich und stapfte den schmalen, in der Mitte mit einem dichten Gestrüpp aus Rainfarn und Beifuß zugewachsenen Weg hinauf. Weidenröschen säumten den Pfad, und Indisches Springkraut verströmte seinen aufdringlichen Duft wie lasterhafte Bardamen, die ein Abenteuer suchten.
    Olga hatte bereits deutlich an Höhe gewonnen, und an der Stelle, wo die Bank an der Birke stand und der Weg in den Tannenwald führte, drehte sie sich um und atmete tief durch.
    In ihrer Vorstellung hatten hier vor Jahrmillionen Riesen die Landschaft zusammengedrückt, um das Wasser herauszuquetschen. Zurückgeblieben waren enge, feuchtdunkle Täler, umgeben von waldbedeckten Steilhängen und senkrechten Felsen, aus deren Ritzen dunkelgrüner Farn wucherte und die sich im Winter mit bizarren Eisformationen aus meterlangen Eiszapfen schmückten. Ein schroffes Land, abweisend, garstig. Vor allem aber völlig verkannt. Für sie hatte ihre Heimat am Rande des Ruhrpotts so viel mehr zu bieten als die Schwebebahn und heruntergekommene Industrieanlagen. Aber Olga hatte nie versucht, das, was sie gerade sah, zu beschreiben. Sie glaubte an die Riesen, die ihr einst die Täler geschenkt hatten.

2
    Thorvald Einarsson und Benno Thalbach waren die Ersten im »Luis«. Benno war das kleine Stück von seinem Vater aus zu Fuß gegangen. Er brauchte nur einmal den Berg hinab- und auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher