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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen
Autoren: Max Mustermann
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sicher?«
    »Hier fehlt niemand.« Er sieht jetzt überhaupt nicht mehr freundlich aus. Verschränkt die blassen Arme vor der Brust und tritt einen Schritt zurück.
    »Warum tragen Sie eigentlich keine Socken? Ihre Füße sind ja schon ganz blau.«
    Zu ihrer Überraschung scheint ihn diese Frage zu amüsieren. Er zwinkert ihr zu.
    »Ciao, Presselady. Komm mal auf eine Yogastunde vorbei, wenn du noch mehr Fragen hast.«
    »Ciao, ciao.« Judith gibt Gas. Yoga. Vielleicht wird sie Kermit beim Wort nehmen. Sie ist ziemlich sicher, dass ihm das nicht gefallen würde.
    Am Ende des Tals entdeckt sie den Holzsteg und lenkt den Ford im Schritttempo darüber. Unmittelbar dahinter liegen die Teiche, starr und glitzernd, wie aus flaschengrünem Glas. Rechts davon führt ein Weg in den Wald, der in der Tat äußerst matschig ist. Judith hält ihren Wagen exakt in der Spur, die andere Fahrzeuge vor ihr gegraben haben. Die Absperrung, die sie nach etwa fünf Minuten erreicht, besteht aus zwei jungen Beamten von der Schutzpolizei, die von einem Bein auf das andere treten und Judiths Dienstausweis sorgfältig kontrollieren. Der Erlengrund ist eine sumpfige Lichtung von etwa 100 Meter Durchmesser. Mehrere Polizeiautos und ein grün-weißer Bus stehen auf dem Waldweg am Rand. Judith parkt hinter einem Kombi und steigt aus.
    Obwohl die Sonne direkt über der Lichtung steht, ist es kalt. Es riecht nach Pilzen und nach vermoderndem Laub. Aus den Polizeiautos dringt das gedämpfte Gezische und Gepiepse des Funkverkehrs. Ein grauhaariger Mann läuft auf sie zu.
    »Hans Edling. Sind Sie vom KK II?«
    »KHK Judith Krieger, ja.«
    Sie geben sich die Hand.
    »Am besten schauen Sie erst mal selbst. Sieht ziemlich übel aus, der Knabe. Ich hab sofort bei euch in Köln angerufen.«
    Er dreht sich abrupt um und springt über einen Graben auf die Lichtung.
    »Sehen Sie den Hochsitz dort drüben? Da liegt er. Spaziergänger haben ihn gefunden. Die sitzen jetzt hier im Bus. Ein Kollege ist auf dem Hochsitz und passt auf. Soll ich mit rübergehen?«
    »Danke, nicht nötig. Je weniger Spuren …«
    »Ja.« Er springt zurück auf den Weg. »Wir sehen uns dann gleich.«
    Erlengrund, überlegt Judith, während sie durch das nasse Gras läuft. Vermutlich gibt es hier Erlen, aber wie sehen die eigentlich aus? Das Gedicht vom Erlkönig fällt ihr ein, die Deutschlehrerin mit den nervösen Haselmausaugen, die hinter ihrer Schildpattbrille hin und her flitzten. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, ganz weich und melodisch, aber in der neunten Klasse hat ihr niemand mehr zuhören wollen und Judith hat sich nicht getraut, sich der Meinung ihrer Klassenkameraden zu widersetzen. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind, rezitiert Fräulein Meinert in Judiths Kopf. Verdammt, schon wieder reiten. Ein Kind hat Angst und stirbt, darum geht es in dem Gedicht. Der Erlkönig bringt den Tod. Erlkönig, Erlengrund. Jetzt reiß dich bloß zusammen, Judith.
    Sie sieht sich mit neuer Aufmerksamkeit um. Fußspuren führen aus verschiedenen Richtungen zum Hochsitz, einen befestigten Weg über die Lichtung gibt es nicht. Sie werden klären müssen, von wem welche Spur stammt. Die Sonne steht hoch. Mit den bunten Herbstbäumen und den glitzernden Pfützen wäre die Lichtung ohne weiteres ein lohnendes Motiv für Landschaftsfotografen. Nichts deutet darauf hin, dass hier eine Gewalttat geschehen ist. Die Welt ist schön und die Menschen tun alles, um einander das Leben zur Hölle zu machen, denkt Judith. Der Hochsitz steht halb versteckt zwischen lichten Bäumen. Als sie ihn erreicht hat, klettert ein Polizist die Leiter herunter. Er hat einen Schal über Mund und Nase gebunden, den er mit einer schnellen Bewegung abstreift.
    »Hallo, Kollegin, an den Geruch gewöhnt man sich nie.«
    »Warum warten Sie nicht hier unten?«
    Er deutet mit dem Daumen zu einem Baum, in dessen kahler Krone große schwarze Vögel sitzen.
    »Geht leider nicht, wegen der Aasgeier.«
    Er steckt sich eine Marlboro an und inhaliert gierig. Judith betrachtet den Hochsitz. Ihre Füße sind nass. Es riecht nach Tod. Das einzige Geräusch ist das heisere Geschrei der schwarzen Vögel. Sie zieht sich Latexhandschuhe und Schuhüberzieher an. Man stellt es sich jedes Mal schlimm vor, aber immer noch ist es doch anders, denkt sie, als sie oben angekommen ist. Dann zwingt sie sich, ganz genau hinzusehen.
     
    ***
    Er findet sie in der Scheune, wo sie das Futter für die Jungtiere mischt. Er nimmt sie in die Arme und
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