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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen
Autoren: Max Mustermann
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Raum. Die Luft wird knapp und sie kauert auf dem Boden, wittert wie ein wildes Tier. »Patrick?«, flüstert sie. So viel Hoffnung in ihrer Stimme, so viel Sehnsucht. Sie muss Hilfe holen. Nach einer endlosen Zeit entdeckt sie ihr Handy. Es liegt auf einer Fensterbank, hinter der nicht mehr die Wiese mit den Heuballen ist, nicht mehr ihr Pferd. Sie rappelt sich auf und stolpert auf das Handy zu. Aber ihre Finger sind steif und nassgeschwitzt und gehorchen ihr nicht mehr. Katapultieren das Handy mitten in eine bodenlose Schwärze und sie weiß, dass sie verloren hat.
    Auf dem Anrufbeantworter im Wohnzimmer tutet das Besetztzeichen. Offenbar hat der Anrufer aufgelegt, ohne eine Nachricht aufs Band zu sprechen. Judith Krieger liegt reglos und versucht, ihren Atem zu zähmen. Sie weiß nicht, was schlimmer ist, der Moment im Traum, wenn das Pferd mit ihr durchgeht, die nicht enden wollende Einsamkeit in dem dunkelbraunen Raum oder das Aufwachen. Sie versteht diesen Traum nicht, der sie seit Monaten wieder und wieder heimsucht. Versteht nicht die Sehnsucht und die Intensität. Versteht nicht, was das Pferd bedeuten soll. Von einer kurzen, unerfreulichen Phase in ihrer Pubertät abgesehen, ist sie nie geritten.
    Sie braucht Kaffee und eine Zigarette. Musik gegen schwarze Gedanken an weiße Pferde und gegen die Stille in ihrer Wohnung, die Martin in der Nacht zurückgelassen hat. Sie setzt Espresso auf und geht zur Toilette. Aus dem Flur dringen die gedämpften Anfangsakkorde von Queens Spread your Wings. Sie findet ihr Handy in der Tasche ihres Ledermantels.
    »Krieger.«
    »Du bist da. Gut.« Axel Millstätt. Ihr Chef.
    »Es ist Sonntagmorgen.«
    »Du musst ins Präsidium kommen, sofort.«
    Irgendjemand hat ihr neulich erzählt, die Abhängigkeit von Zigaretten sei ähnlich stark wie die von Heroin. Sie fischt ein Blättchen und einen Filter aus ihrem Tabakpäckchen.
    »Im Bergischen Land haben sie eine Leiche gefunden. Ziemlich unappetitliche Geschichte. Identität nicht feststellbar. Wolfgang hat Angina. Die anderen sind mit dem Jennifer-Fall vollauf ausgelastet. Ich möchte, dass du ins Bergische fährst und dir das ansiehst.«
    Sie zündet die fertig gedrehte Zigarette an und nimmt die gurgelnde Espressokanne vom Herd. »Heißt das, dass ich die Ermittlungen leiten soll?«
    »So würde ich das nicht ausdrücken.«
    Pause.
    »Du weißt doch selbst, die letzte Zeit …«
    Judith trinkt einen Schluck Espresso, verbrennt sich, kippt den Rest in ein Glas und schüttet kalte Milch dazu. Red nicht darüber.
    »Ja, ich weiß.«
    »Mein Gott, Judith, das geht nicht, beim besten Willen nicht. Wir wissen doch alle, was du durchgemacht hast. Ich will ganz ehrlich sein mit dir. Du warst eine exzellente Ermittlerin, du weißt, dass ich von Anfang an auf deiner Seite war. Aber dann passierte diese unselige Geschichte – nein, lass mich jetzt ausreden. Diese unselige Geschichte mit Patrick also, und verdammt, jeder hatte Verständnis, dass du Zeit brauchtest.«
    Red nicht davon.
    »Aber jetzt sind zwei Jahre vergangen und dir fehlt immer noch der nötige Biss. Diese Sache im Bergischen ist eine Chance für dich.«
    Nikotin und Koffein pulsieren in ihrem Kopf. Eine heiße Welle. Judith inhaliert tief, ist sich nicht sicher, ob sie eine Chance haben möchte. Ob sie sich einer Chance gewachsen fühlt.
    »Manni. Du und Manni, ihr werdet das Kind schon schaukeln. Ihr berichtet an mich.«
    »Manni?«
    »Manni.«
    Sie hört auch das, was er nicht sagt, nicht sagen muss: Friss oder stirb, dies ist deine Chance. Deine letzte Chance. Sie kann ihm das nicht einmal verdenken.
    »In einer halben Stunde in meinem Büro?«
    Judith bläst Rauch Richtung Decke.
    »Okay.«
    Axel Millstätt hat Spanielaugen. Bitterschokoladenbraune Spanielaugen, die niemals zu zwinkern scheinen. Starren ihr Gegenüber einfach so lange an, bis es sich fühlt wie ein Schmetterling, auf den die Nadel eines Insektenforschers niedersaust. Früher hat Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger den Ehrgeiz besessen, diesem Schokoladenblick etwas entgegenzusetzen. Wie Ikarus hat sie ihre Flügel gespreizt und versucht in die Sonne zu fliegen und Millstätt hat das durchaus zu würdigen gewusst. Jetzt senkt sie den Kopf, weiß nicht, wo sie hinsehen soll. Manni stürmt ins Büro, eifrig wie ein überdimensioniertes Füllen. Seine knochigen Beine stecken in modischen Cargo-Jeans, sein Blondhaar ist auf dem Kopf zu kleinen Stacheln hochgegelt. Erwartungsvoll rutscht er auf seinem
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