Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen
Autoren: Max Mustermann
Vom Netzwerk:
und die Aussicht vom Bärenberg zu genießen.
    Egbert Wiehl erreicht den Fuß der Leiter und späht nach oben. Die Krähen haben überhaupt keinen Respekt vor ihm. Es sind viele, bestimmt 20 Stück.
    »Schschsch«, macht Egbert Wiehl, »Schsch.«
    Er stellt den Rucksack ins Gras und dreht sich um. Beide, Helga und die blonde Sportlerin, stehen nun nebeneinander und beobachten ihn. Es sieht aus, als ob Helga die Fremde festhält. Im selben Moment bemerkt er den Gestank. Süßlich. Faulig. Kranke und Sterbende riechen manchmal schlecht, aber doch nicht so. Verwesung, signalisiert sein Hirn. Vor 40 Jahren hat er das zuletzt ähnlich intensiv gerochen, als sie im Keller des Universitätsklinikums Leichen sezieren mussten. Es gab keine Klimaanlage und man konnte nie sicher sein, was einen erwartete, wenn man die Toten aus ihren Formalinbädern hob. Egbert Wiehl späht ins Unterholz, kann aber nichts Ungewöhnliches erkennen. Er versucht, möglichst flach zu atmen.
    Der Gestank wird schlimmer, je höher er klettert. Die schwarzen Vögel stürzen krächzend aus dem Himmel und taumeln wieder empor. »Schsch«, macht er erneut, aber erst als er ganz oben angekommen ist, fliegen sie weg. Das Blut rauscht in seinen Ohren. Sein Mund ist trocken, die Zunge ein pelziges Tier. Das, was die Krähen zurückgelassen haben, liegt auf der hölzernen Sitzbank. Es stinkt gotterbärmlich. Es ist nackt und zerfressen. Schutzlos. Im Dach des Hochsitzes fehlen Bretter. Egbert Wiehl schluckt angestrengt. Nur das Haar der Leiche sieht noch menschlich aus. Es ist seidig und blond, wie das der Sportlerin.
     
    ***
    Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger reitet wieder. Sie galoppiert durch einen Sommerwald, in weiten Sprüngen, die sie wiegen, bis sie vergisst, dass sie und das Pferd zwei Wesen sind.
    Ein Schimmel. Er spricht zu ihr in einer Sprache, die sie intuitiv versteht. Eine dunkle Stimme, tief in ihr drin. Es tut weh, weil es so nah ist. Irgendein Ich von ihr weiß die ganze Zeit, dass sie nur träumt, und registriert das Telefon, aber sie hört trotzdem nicht auf, den Pferdehals zu liebkosen. Nicht aufwachen müssen. Niemals mehr. Geborgen sein, gewiegt werden wie ein Kind. Das Klingeln verstummt und wieder gibt es nur den weißen Rücken unter ihr, die Ahnung von Glück. Licht fällt durch die Baumkronen auf das Pferd und tanzt im Takt seiner Muskeln. Irgendwo tief in ihrer Brust lauert der Schmerz.
    Als sie den Waldrand erreichen, will sie umkehren, aber das Pferd gehorcht ihr nicht mehr. Ich will das nicht, denkt ihr waches Ich. Will diesen Traum nicht, jedenfalls nicht dieses Ende, nicht wieder dieses Ende. Weit entfernt hinter den Feldern duckt sich ein Gehöft ins Tal. Plastikverschweißte Heuballen gleißen daneben, der Landschaft seltsam entrückt, wie eine Installation von Christo und Jeanne-Claude. Der Schmerz in Judiths Brust wird stärker, Panik mischt sich darunter, trocknet ihre Kehle aus. Du träumst, sagt ihre Vernunft. »Du musst suchen«, flüstert der Schimmel. Was denn, will sie fragen, aber da trägt er sie auf einmal vorwärts – so ist es jedes Mal –, schneller und immer schneller und es gibt keine Zügel, nur die Mähne, an die sie sich klammert, den Geruch nach Erde und Pferd und den Wind, der ihr die Tränen in die Augen treibt. Die Angst. Sie beginnt zu fallen. Halt an, ich will nicht zu diesem Hof, versucht sie zu rufen, aber die Einigkeit mit dem Schimmel ist jäh verschwunden und sie findet ihre Stimme nicht mehr, nur verzweifelte Sehnsucht und das überwältigende Gefühl von Verlust.
    Im nächsten Moment ist sie allein, im Inneren des Gehöfts. Eine steile Treppe, Dunkelheit, die sie umfängt. Der Geruch ranzigen Drecks. Eine fleckige Matratze. Schmuddelige Tapeten. Irgendwo ist das Opfer. Fleisch und Knochen. Haare. Vergänglich. Zu vergänglich. Dann keine Tür mehr, keine Treppe, kein Entkommen, nur noch ein Raum mit zu niedriger Decke. Wo sind ihre Kollegen? Ein Geräusch vor dem Haus. Galoppierende Hufe. Panik. Das Pferd lässt sie allein. Sie ist allein.
    Sie hat es nicht geschafft. Wo verdammt noch mal ist die Tür? »Warum bist du nicht gekommen?« Patricks Stimme. Warum kann sie nicht antworten? Warum wäscht diese Panik durch ihren Körper, in jede ihrer Poren? »Ich hab es einfach nicht geschafft.« Ein heiseres Flüstern. Ist das wirklich ihre Stimme? Ihre Lippen sind steif. Sie kann Patricks Antwort nicht hören, weiß nur, dass er da ist, irgendwo hier in diesem muffigen, dunkelbraunen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher