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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen
Autoren: Max Mustermann
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Schädelknochen. Die Brust ist Blut. Aus der Bauchhöhle quellen bräunliche Gedärme, es sieht so aus, als wären sie Stück für Stück aus dem Unterleib gezerrt worden. Blonde Haare. Der Tote lehnt in der Ecke auf der hölzernen Sitzbank, einen Ellbogen beinahe lässig in die Schießscharte geklemmt, die andere Hand locker neben sich auf der Bank, die Beine weit ausgestreckt. Die Todesursache ist nicht zu erkennen. Kopf und Rumpf sind mit Wunden übersät. Aasgeier, hat der Polizist gesagt. Judith hat noch nie darüber nachgedacht, was Krähen fressen und dass das Sprichwort von den Krähen, die einander nicht die Augen aushacken, einen sehr realen Ursprung haben könnte. Sie schätzt die Körpergröße des Toten auf über 1,80 Meter. Sie geht in die Hocke und schiebt die Gedärme ein Stück aus der Lendengegend. Eindeutig ein Mann. Er muss mindestens seit einer Woche tot sein, wahrscheinlich länger.
    Hat die Leiche eigentlich keine Kleider? Sie bückt sich noch tiefer und späht unter die Sitzbank. Dunkelverkrustete Flecken, etwa unter dem Körper des Toten. Ein paar ins Holz gedrückte Zigarettenkippen. Selbstgedrehte Zigaretten, sehr dünn, ohne Filter. Ganz hinten in einer Ritze liegt noch etwas. Ein Stück durchsichtiges Hartplastik. Sie pult es heraus, hält es ans Licht. Ein Splitter, etwa drei Zentimeter lang mit geriffelter Kante, vielleicht ein Stück Griffmulde von einer Kassette oder CD-Hülle.
    »Frau Krieger, Ihr Chef aus Köln will Sie sprechen.« Hans Edlings Stimme schallt über die Lichtung.
    »Ich rufe ihn gleich an!« Alles, was sie braucht, ist ein Moment der Ruhe. Zeit, ein Gefühl für diesen Ort zu bekommen, ein Gefühl, das sie später leiten wird, so war es jedenfalls früher immer. Es ist kalt. Sie schiebt die Hände in die Taschen ihres Ledermantels. Gleich wird Manni ankommen, die Spurensicherer und dann ist es zu spät für ungestörte Beobachtungen. Komm schon, Judith, beeil dich. Ihre Blicke fliegen.
    Der Tote hat keine Kleidung, keine Schuhe, keine Papiere, keine Waffe. Das Dach des Hochsitzes hat ein großes Loch. Judith stellt sich auf die Zehenspitzen und lässt die Finger über die Kante der Öffnung gleiten. Vermutlich sind einmal Balken draufgenagelt gewesen, oder Teerpappe. Wo sind diese Balken jetzt? Sie schaut nach unten, sieht aber nur Gebüsch und den Polizeibeamten, der sich gerade eine weitere Zigarette anzündet. Eine Fernsehreportage fällt ihr ein, die sie vor einigen Wochen nachts gesehen hat, als sie mal wieder nicht schlafen konnte. Das Volk, um das es ging, bettet seine Toten auf Tragegestellen in Bäumen zur letzten Ruhe, bietet sie ungeschützt dem Licht und den Vögeln dar. Es hat etwas mit Ehrerbietung und den Wünschen der Götter zu tun, aber Judith hat nicht bis zum Ende zugeschaut, sondern weitergezappt. Überall klebt getrocknetes Blut in grotesken Spritzmustern. »L & A« hat jemand mit schwarzem Filzstift in ein großes Herz an die Rückwand des Hochsitzes geschrieben. Auch eine Sarah und ein Mick haben sich in einem Herz verewigt, allerdings ist dieses mit einem Messer ins Holz geritzt. »Tom, du geile Sau«, steht daneben und etwas weiter links »Meli was here«. Diverse Initialen und Daten – aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Zusammenhang mit dem Mord. Sitzen Liebende aus der Umgebung in diesem Hochsitz, schmiegen sich aneinander auf der Holzbank, unsichtbar für die Welt zu ihren Füßen, den Blick durch die Schießscharten in die Baumkronen gerichtet? Vorsichtig bückt Judith sich so weit hinunter, dass ihr Kopf auf der Höhe des Toten ist. Was war das Letzte, was er gesehen hat? War es Tag oder Nacht, als er starb? Sie ist plötzlich sicher, dass es Nacht war, dass er allein war mit seinem Mörder. Kein Wanderer weit und breit, der ihn hätte retten können. Nur Wald, stoischer, stummer Wald und Dunkelheit. Judith steht ganz still. Wenn sie die Augen schließt, glaubt sie die Angst des Toten noch zu fühlen, ein rasendes, irrlichterndes Aufbegehren.
    Sie klettert die Leiter hinunter. Dreht sich eine Zigarette. Der Polizist lässt ein silbernes Benzinfeuerzug aufschnappen und gibt ihr Feuer.
    »Das mit dem Anrufen kannst du vergessen.«
    »Wie bitte?«
    »Vergiss es einfach, Empfang gibt’s hier nur auf dem Hochsitz. Wenn du Glück hast.«
    Judith fischt ihr Handy aus der Manteltasche und betrachtet das Display. »Netzsuche.« Er hat Recht.
    »Ich werd dann mal wieder.« Er tritt seine Zigarette aus und schiebt die Kippe in die
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