Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
Vom Netzwerk:
sich Jahrzehnte in Bewegung gehalten hat, wie eine Fee, aber dann rasch verschwunden ist, aufgelöst in der durchsichtigen Weite, aus der sie eines Tages hervorgegangen war. Dieses Etwas musste ja immerhin geatmet haben, sagte er sich, unzählige Male die Luft ein- und wieder ausgeatmet haben. Schon kurz nach ihrer eigenen Geburt, dann in der Umarmung eines Mannes, vielleicht seines Vaters, hat sie heftig und laut geatmet, hat geschrien, die Luft ausgestoßen, dann wieder bei seiner Geburt, später ist ihr Atem flacher geworden, gleichmäßig und ruhiger, in so vielen Nächten, in denen er sie nicht mehr kannte … Die Luft über dem Kontinent war eine große Halle, in der sie lebte und atmete.
    Und ihr Körper? Er wusste nicht, wo er jetzt war. Der Körper der Mutter ist wie die Atemluft, du brauchst sie, aber sie gehört dir nicht, du beachtest sie nicht einmal.
    Die helle Autobahn in seiner Erinnerung ist damals viel leerer als die heutigen. Endlose sandgraue Betonstreifen durchzogen die Landschaft, einige Brücken waren zerbombt, der Schutt lag an den Straßenrändern. Es ging zu bewundernswerten deutschen Schlössern, Burgen, Museen, Sehenswürdigkeiten. Hermannsdenkmal. Residenz Würzburg. Insel Mainau. Das war wenige Jahre nach dem Krieg, und seine Eltern legten Wert darauf, dass Konrad ein Patriot wurde und deutsche Kultur lieben lernte. Seine Mutter – da ist sie jetzt auf einmal doch – verhedderte sich mit den Landkarten, sie konnte sie nie richtig falten, das Kartengebilde plusterte sich auf ihrem Schoß und irritierte den Vater, der irgendwann anhalten musste, um es ordentlich zusammenzulegen. Mit so einer Unordnung an seiner Seite konnte er sich nicht auf die Straße konzentrieren. Mutter war im Allgemeinen nicht gut als Beifahrerin, sie bekam dafür oft Schimpfe. Später fragte Konrad sich, warum das alles so gekommen war. Er erinnerte sich an den feinen Geruch, wenn sie ihren Kopf zu ihm oder von ihm weg drehte, wie ein Hauch von Odol oder One Drop Only vom Regal im Bad. So erklärte er sich das, als er noch nicht wusste, was es bedeutete. Der Vater entschied alles, auch, wo angehalten wurde. Wenn die Mutter es irgendwo schön fand, zählte das nicht, er fuhr weiter, und sie verstummte für längere Zeit. Konrad erinnerte sich sehr genau an die Stimmung, die dann im Auto herrschte. Und er konnte ja nicht weg. Er alberte auf der Rückbank herum, machte Witze, um seiner Mutter zu helfen, auch aus ihrer Sprachlosigkeit heraus. Er wollte sie aufheitern. Ihr Bewegungsfreiheit verschaffen. Er wollte seine Mutter beweglich haben und stark. Aber der Rücken des Vaters im Anzugsstoff presste sich massig gegen den Sitz und machte alles schwer. Durch den Spalt unter der Kopflehne sah er den rasierten Nacken. Wenn die Mutter nicht lachte, und das tat sie oft nicht aus Angst, den Vater zu verärgern, dann war das die schlimmste Art von Versagen in seiner Kindheit. Nicht einmal seine Witze taugten etwas. Er konnte dann auch nicht weglaufen vor Scham. Er musste das ertragen. Er war gefangen in dieser kleinen Familie, gefangen in diesem Auto.
    Vater rauchte Zigaretten. Die heiße Sommerluft aus dem Fensterspalt wehte auch den Rauch zu ihm nach hinten. Später kamen andere Automodelle, nach dem ersten Kadett ein Opel Diplomat. Sonst änderte sich nichts. Es war das gleiche Gefängnis, die gleiche Familie. Die Befreiung kam erst, als sie nach Berlin gingen. Aber da war dann auch die Mutter weg, sie blieb in Westdeutschland. Konrad war acht. Der Vater kaufte ihm zum Trost einen Spielkameraden, einen Terrier namens Artur. Wo war Artur geblieben? War er irgendwann weggelaufen? Konrad wusste es nicht mehr.
    An all das hatte er ewig nicht gedacht. Es war ihm eigentlich auch schon lange egal. Nur weil sein Onkel vor zwei Tagen über seine Mutter gesprochen hatte, fiel es ihm wieder ein, jetzt bei dieser monotonen Fahrt über die Autobahn.
    Sein eigenes Auto war alt, er hatte sich bewusst ein unansehnliches, gebrauchtes Modell zugelegt, immer noch im reflexhaften Widerstand gegen das Establishment und gegen bürgerliche Statussymbole. Außerdem sollte es im Grenzland oder in Polen nicht gleich gestohlen werden. Weil es alt war, roch es kaum oder gut, zum Beispiel nach den Äpfeln, die er öfter vom Bauernhof der Freunde in Brandenburg mitbrachte.
     
    Mit einem knurrenden Satz war der Schäferhund bei ihm, und genauso schnell hatte er ihn erkannt und umtänzelte ihn nun mit eingeklemmtem Schwanz. Jacek hatte ihn aus der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher