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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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in ihrem Kopf das erbarmungslose Echo der anderen Schüsse, sie will nicht glauben, dass ringsum plötzlich alles so still geworden ist, in diesem idyllischen Wäldchen oben auf der Höhe. Sie sieht nichts und hört nur ihren eigenen, rasenden Herzschlag. Nur das helle Zwitschern der Vögel ist noch lauter.
     
    Alles Weitere wie so oft. Der Sturz auf die Fahrbahn. Der spitze Schrei einer Passantin, das Letzte, was er hörte.
    Erwähnenswert ist das alles nur, weil es einem Besucher aus Deutschland zustieß, der Kleidung nach zu urteilen kein Geschäftsmann, eher ein Rucksacktourist, allerdings auch dafür untypisch gekleidet, im verdreckten Jackett, der aus unerklärlichen Gründen in den Schusswechsel zwischen zwei Banden hineingeraten war, mitten im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt mit ihren luxuriösen Läden und den schwarz polierten großen Autos, die die Fußgänger über die Bürgersteige scheuchen. Augenzeugen sagten aus, dass sich der Deutsche schon vorher sehr unsicher, fast taumelnd bewegt habe. Etwa eine halbe Stunde habe er sich bei den Obdachlosen am Straßenrand aufgehalten, sich von ihnen fast willig in ein Gespräch hineinziehen lassen. Am Ende habe er ostentativ beide Hosentaschen nach außen gekehrt. Habe sich von einem der Männer eine Flasche reichen lassen und einen langen Schluck genommen. Daraufhin sei er mit regelrecht tänzelndem Schritt in Richtung Bahnhofsvorplatz stolziert. Als er auf der Mitte des Platzes war, sei ein großer, schwarzer Wolga von rechts an ihn herangefahren. Der Fahrer habe angehalten, vermutlich amüsiert über die Tanzeinlage, oder um sich über den Betrunkenen lustig zu machen. Er kurbelte die Scheibe herunter und streckte seine Hand heraus, wedelte mit einem Geldschein. Der Deutsche habe innegehalten, habe den Mann gemustert, als glaubte er, ihn zu kennen, wäre sich aber nicht sicher, dann habe er plötzlich eine Pistole aus der Jacketttasche gezogen. Das müssen die an der Mauer mitbekommen haben, er hatte ihnen kurz zuvor noch zugewunken. Dennoch meldeten sich hierzu keine Augenzeugen. Die meisten dieser Tagelöhner gaben später an, nichts gesehen zu haben, wie das feige Gesindel eben so ist, man landet ja nicht umsonst in der Gosse. Einer behauptete sogar, von links sei ein grüner Toyota gekommen und der Schuss aus diesem Auto. Auch die Ansichten darüber, ob der Deutsche auf den Fahrer des Wolga gezielt oder die Pistole vielleicht an die eigene Schläfe gesetzt habe, gingen auseinander. Verlässliche Zeugen gibt es allerdings dafür, dass der Deutsche nach dem Knall auf den Asphalt fiel und reglos liegen blieb.
    Der Rest wie üblich. Frauen auf hochhackigen Schuhen knicken ohnmächtig um oder starren wie gebannt auf die sich ausbreitende Blutlache, sind hilflos dem Schrecken ausgeliefert und können den Blick nicht abwenden. Männer gucken tapfer zur Seite. Am nächsten Tag eine Schlagzeile im Lokalteil. Und kurz darauf ist alles vergessen.
     
    «Er hat immer behauptet, dass ich nicht genug liebe», sagte Svetlana zu Jaroslaw, der durch die offenstehende Wohnungstür getreten war und ihr vom Boden aufhalf.
    «Und dann ist er einfach selbst abgehauen.»

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Über Olaf Kühl
    Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin und ist vor allem als Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen bekannt. 2005 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis für sein polnisch-deutsches Übersetzungswerk ausgezeichnet. Seit 1996 ist er Russlandreferent des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. 2011 erschien Olaf Kühls Debütroman «Tote Tiere».

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Über dieses Buch
    Zunächst ist es für Krynitzki ein ganz normaler Auftrag: Er soll eine verschwundene Luxuslimousine ausfindig machen und von Kiew nach Deutschland zurückbringen. Mit solchen Missionen verdient der Enddreißiger seinen Lebensunterhalt, Versicherungen bezahlen ihn, und auch in diesem Fall scheint der Betrug auf der Hand zu liegen. Halb unbewusst vor seiner Familie und seiner zerrütteten Beziehung aus Berlin flüchtend, fährt Krynitzki nach Kiew – und stellt fest, dass der dortige Halter des Fahrzeugs ein hoher Beamter war, der vor wenigen Monaten gestorben ist. Krynitzki lernt die rätselhafte, eigentümlich anziehende Witwe Svetlana kennen – und ihren Sohn Arkadij, ein hochbegabter Geist, der in einer psychiatrischen Anstalt lebt und sich obsessiv mit der gewaltreichen ukrainischen
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