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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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Jahre der Jugend, als noch nichts sich verhärtet hatte und alles sich neu deuten oder verändern ließ.
    Als er noch glauben wollte, seine Mutter liebe ihn. Als er ihr nachts lange Briefe in ungelenker Handschrift schrieb. Als sie ihn vielleicht auch noch nicht losgelassen hatte, nur, woher hätte er das wissen sollen? Sie wusste es ja selber nicht. Und noch früher, in Castrop-Rauxel, als sie «Konrad, Mittagessen!» aus dem Fenster des Mietshauses rief und er es nie übers Herz brachte, sie – wie er eigentlich wollte – lange warten zu lassen, sie in Sorge zu versetzen, damit sie ihn dann noch glücklicher begrüßen würde, aber das hielt er selbst nicht lange aus, immer zog er brav seine Spur mit dem Bollerwagen in Richtung Zuhause.
    Die dumme Kugel schlägt Purzelbäume. Jahre sind für sie ein Kinderspiel, alles liegt offen und überschaubar auf der Hand. Das Meer, die Nordsee. Ein Sommerurlaub. Der Sandstrand. Der Duft von Badeöl. Das schäumende, salzige Ungeheuer. Seine Mutter. Alles war noch eins. Ein Ende nicht abzusehen.
    «Damals konnte man immer noch alles einfach umstoßen.»
    Onkel Wolfgang, der alte, schwule Nazi, die Sau! Die Wörter färben aufeinander ab wie falsch sortierte Wäschestücke, deutscher Junge, schwule Nazisau, aber egal, uns kann das gleichgültig sein, wir befinden uns quasi im Rückzug, in heller Auflösung, alle sind vogelfrei, diese kleine Welt rast unaufhaltsam dahin, sie dauert nur noch kurz, einen Augenblick noch, ist ja gleich vorbei, dieser Tropfen von wenigen Millisekunden Durchmesser, eingeschlossen in der großen, weiten Welthalle, deren Grenzen wir nicht erkennen, so wie eine winzige haarige Mücke im Bernstein den Sandstrand nicht sieht und erst recht nicht die ganze Ostsee.
    Onkel Wolfgangs Gesicht vor dem Schlachtensee, er war plötzlich ganz jung, er stieg aus dem Wasser und prustete, sein Gesicht wurde größer, weil er ganz nahe kam, und Wasser spritzte auf die Linse der Kamera. Er lachte und wandte den Kopf um, denn hinter ihm stieg ein anderer junger Mann lachend aus dem Wasser, der ihm verblüffend ähnlich sah. Seine Haut war nackt und hell und verletzlich, blond das Haar vor dem blauen Wasser. Geschenkt, dass der Schlachtensee am späten Nachmittag meist braun und trüb aussieht. Sein Wasser kann sich ja auch rot färben, wenn sich wer geschnitten hat. Aber jetzt war der Onkel noch glücklich und stark, als wäre er nicht dem See, sondern einem Gemälde von Dejneka entstiegen, oder als wäre er selbst eine lebendige Skulptur von Breker. Sein ganzes Leben lag vor ihm. Seine ältliche Koketterie war wie weggeblasen. Er brauchte auch die Schmerzensschreie der sowjetischen Soldaten, ihre weiße Haut und ihren starren Blick nicht mehr zu seinem Glück. Er hatte verstanden, was zählte und was nicht.
    Alle waren glücklich, sogar Marlene.
    «Sie waren plötzlich verschwunden», log Muschter, als er ihm auf der Treppe entgegenkam. «Jede Verbindung war abgerissen!» Seine Angestellten saßen am Resopal-Kantinentisch über den Resten ihres geschmacklosen Schnitzels mit Mohrrüben- und Erbsenzweierlei oder starrten auf die Bildschirme und konnten beim besten Willen keine Muster in diesem Datensalat erkennen. Mancher überspielte seine lauernde Unsicherheit durch Geschäftigkeit, griff sich entschlossen eine Akte, eilte zum Paternoster und ließ sich – scheinbar aus Unachtsamkeit – über das höchste Stockwerk hinausfahren, damit das leichte Grausen zwischen den schwarzen, von grün schimmernden Fettklumpen starrenden Stahlrädern ihn für einen Augenblick ablenkte. Andere sitzen in Besprechungssälen und reden und reden, aber in Wirklichkeit merken alle, dass etwas fehlt.
    Aber was?
    Alle waren hier. Bis auf …
    Doch. Da war sie am Ende doch.
    Auf einer seiner Reisen als Handelsvertreter kam er in eine Kleinstadt in den neuen Bundesländern. Solche Innenstädte waren herausgeputzt, die Fassaden renoviert, und dennoch war alles grau und braun, wie vor der Erfindung des Farbfilms. Keine Menschenseele auf der Straße, nur an der Imbissbude zwei Männer. Er wusste nicht, was ihn bewog, ausgerechnet jenen bestimmten Aufgang und die zwei Treppen hinaufzusteigen. Oben fand er seine Mutter in einer zugigen, dunklen Mansarde. Woher er die Adresse hatte? Frag das den Traum nicht.
    Sie lag auf einer Couch und war ganz jung, als wären die letzten Jahrzehnte, all die leeren, langen Jahre ohne ihn, einfach an ihr vorübergegangen und hätten ihr nichts anhaben können.
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