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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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ihn erreicht, kommen ihm Bedenken. Nein, er ist alarmiert, aber er begreift den Grund dafür nicht mehr. Die Kugel denkt für ihn. In Gestalt eines Punktes bringt sie den Satz zu Ende. Das ist die Pointe. Bevor er einen klaren Gedanken fassen kann, dringt sie schon in ihn ein. Sein Körper leistet keinen Widerstand, wie eine weiche, empfängliche Frau. Die Kugel dringt in ihn ein, es ist ihr egal, woher sie stammt, ihm ist es auch egal, sie bohrt sich, dreht sich durch das Pflaster über dem sich vergrößernden, bläulichen Pickel, den er seit Tagen immer wieder vor dem Spiegel in Svetlanas Badezimmer betastet hat, aus Angst, es könne ein Kaposi-Sarkom sein. Diese ewige Hypochondrie, damit ist jetzt auch bald Schluss. Svetlana hatte sich noch über die Stelle gewundert, hatte ihm mit ihrer alten Hand über die Schläfe gestrichen. Ach, keine Sorge, das ist nichts, nur ein Pickel. Das Eindringen durch die Haut ins Unterhautfettgewebe auf der rechten Schläfenseite verursacht in der ersten Zehntausendstelsekunde nur ein Kitzeln.
    Oder ist ein Kitzeln kein Kitzeln, nur weil es von kurzer Dauer ist? Alles eine Frage der Dimensionen. Man kann das kleinste anatomische Gelände auf einen Maßstab vergrößern, der gegen unendlich geht, wie Arkadij es tat. Das Verrückte beeinflusst das Normale, es sickert osmotisch zu ihm durch, und schon öffnet Unendlichkeit sich zwischen einem Satz und dem nächsten.
    Und das ist erst der Anfang. Kurz darauf erreicht die Kugel den Schädelknochen, es folgt so etwas wie ein dumpfer Schlag, denn dieser Knochen ist hart. Es erinnert Konrad an einen schmerzhaften Sturz, den Schlag von der Hand seines Vaters, als er gegen die Schrankwand geflogen war und das Nussbaumholz viel härter war als die Hand und seine Liebe zum Vater auf einen Schlag erschüttert. Im Wortsinne. Er verstand nichts, genauso wenig wie jetzt. Er hatte den Schmerz ausgehalten und sein Weinen unterdrückt, er wollte dem Vater keine Schwäche offenbaren, und nachdem der endlich das Zimmer verlassen hatte, staunte Konrad selbst, dass da keine Spur von Trauer war, nur noch ein immer kälter werdendes Gefühl … wie eine langsame Entfernung in den Weltenraum (wie das weiße Raumschiff Enterprise davonglitt), eine Entfernung von ihm selbst, als betrachte er sich jetzt aus großer Weite. So saß er lange reglos in seinem Zimmer, lehnte mit dem Rücken am Schrank, horchte dem Gefühl nach und ließ die Kälte auf sich wirken. Es war beinahe schon wieder angenehm, ein gutes, kaltes Gefühl, wie im Freibad in der ersten, zweiten Klasse, wenn er vom Einer ins kalte Wasser gesprungen war und sein Penis beim Herausklettern aus dem grünen Chlorwasser klein und kalt in der Badehose lag. Er wunderte sich nur: Die Mutter hatte ihn gehen lassen, der Vater liebte ihn nicht.
    Von da an ließ sich nichts mehr wiedergutmachen. Und der Nichtschmerz in diesem Augenblick war nur ein später Nachhall des Nichtschmerzes von damals.
    Da ist die Kugel schon auf dem Weg durch die harte Hirnhaut, und in diesem kurzen Moment ist er glücklich, er sieht die Straße in Castrop-Rauxel vor sich, auch die Bergarbeitersiedlung, alles erscheint ihm klein und übersichtlich, so als wäre er als Erwachsener an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt und hätte alles genauso vorgefunden wie in seiner verklärten Erinnerung. Aus dem Küchenfenster im ersten Stock sah er den Rotdorn. Die Zweige schienen zum Greifen nah, besonders wenn sie nach dem Regen glänzten. Dann hingen Tropfen an den gezackten Blättern, von denen sich im Frühjahr Raupen an dünnen Fäden abseilten. Es roch dann immer leicht bitter, entweder die Blätter oder die Raupen selbst. Das Grün der Bäume im Mai.
    Schon liegt zwischen den Orten keine Entfernung mehr, schon stehen da auch die Polizeipferde bei der Demonstration vor dem Amerika-Haus. Das zitternde Pferd in der Box, der riesige Bauch jenes an einer Kolik verendeten Tieres. Die vom Pulverdampf panischen Pferde der Württemberger in Russland.
    Da befindet sich das Geschoss längst auf freier Flur in den weichen Windungen der Hirnmasse, die sich falten wie eine Walnuss, die Kugel tobt durch geplustertes Gewebe, nachgiebige graue Zellen, sie reißt übermütig alles mit sich, rennt wie ein Jagdhund, der von der Leine gelassen wird am eisigen Wintertag, sein Atem schnappt, und freudig erschallt sein Bellen – soll er jagen, soll er über das Stoppelfeld schießen, mit gestrecktem Leib durch die formbaren, endlos sich erstreckenden
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