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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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fiel auf das getönte Fenster. Dahinter bewegte sich etwas, schemenhaft, dann glitt die Scheibe, eine Innovation in der Fahrzeugindustrie, aus Doppelglas, lautlos nach unten und gab, wie ein fallender Schleier, den Blick auf den Kopf eines Mannes frei. Das Bild war viel schärfer und deutlicher und sagte dennoch nicht viel mehr als die verschwommene Gestalt zuvor. Konrad sah grau meliertes, geföhntes Haar, eine gebräunte Stirn und eine flache, breite Nase. Einen Augenblick glaubte er, den jungen Jurij Solowjow zu erkennen, die Ähnlichkeit mit dem Mann auf den Fotos war frappierend. Oder doch mit Arkadij? Ausgerechnet von Olha hatte er gar nichts.
    Das Gesicht drehte sich zu ihm und grinste. Vielleicht lächelt der Mann, dachte Konrad, weil er ahnt, dass ich es gut mit ihm meine. Er freut sich über das Geschenk, auch wenn er es ja noch gar nicht wissen kann: Hier habt ihr den Wagen, ich bin raus aus dem Geschäft. Ich habe diesen elenden Job satt. Sie haben mich hängenlassen, denen ist scheißegal, was mit mir passiert, deshalb bin auch ich zu keiner Loyalität mehr verpflichtet. Es gibt Wichtigeres im Leben, Autos finde ich so was von Scheiße. Nehmt den Wagen, meinetwegen als Kompensation für unsere Kriegsgräuel, wenn ihr auf so was überhaupt noch Wert legt. Babij Jar 1941 . Gut, ich war zwar nicht dabei, aber ich stehe zur historischen Verantwortung meines Volkes. Wiedergutmachung für die Mordtaten, die grausame Besatzung. Ich überlasse euch freiwillig dieses technologische Beutekunststück. Er lächelte über den schiefen Vergleich. Er machte sich hier zum Affen, aber irgendwie war das alles auch irre komisch. War ein Mercedes 500   SE vielleicht kein Kunstwerk? Generationen von Ingenieuren haben daran gearbeitet, und ihr wisst das zu würdigen. Sonst hättet ihr ihn ja nicht geklaut. Ob man weint oder lacht, das Zwerchfell zuckt immer.
    Nach der tiefen Niedergeschlagenheit noch vor Stunden, allein auf dem Land im Lada, wurde Konrad jetzt geradezu euphorisch. Schon vor Hunger. Die Unterzuckerung beflügelte ihn gewaltig. In seiner Euphorie begann er, sich ungeheuer leicht und witzig zu fühlen. Worüber er auch nachdachte, alles begriff er auf Anhieb. Nie hatte er so vor Ideen gesprüht. Die Gedanken flogen ihm zu, er jonglierte damit, ließ sie tanzen wie Flammenkugeln, er hätte jetzt die ganze Welt zum Tanzen bringen können, wäre sie ihm in die Arme gelegt worden.
    Aber an Wasyl war alle Leichtigkeit verschwendet. Dieser Sohn Olhas war offenbar ein stocksteifer Mann, einer von jenen Kerlen, die kein Fünkchen Körpergefühl besitzen oder so verklemmt sind, dass sie nie aus sich herausgehen. Mit Sicherheit kein guter Tänzer. Der linke Unterarm ruhte so steif auf der Fensterkante, wie er auch den Rücken einer Tanzpartnerin starr umklammert hätte. Dazu ein ordinäres Kleidungsstück, ein rot-blau kariertes Flanellhemd, bis zum Ellbogen hochgekrempelt, wie bei einem Holzfäller. Es passte nicht zur Automarke, schon gar nicht zu diesem Modell. Dazu hellbraune Lederhandschuhe, eine absurde Kombination.
    Mit der rechten Hand griff er jetzt über die linke und reichte etwas heraus. Konrad konnte es nicht genau erkennen. Er war geblendet von der Sonne, geblendet von seiner Freude, jetzt alles verstanden zu haben. Er war befreit. Er sah sein Leben wie von weit oben, es gab keine dunklen Stellen mehr. Er hob die Hand, wie um das Geschenk in Empfang zu nehmen oder dankend abzulehnen, egal. Alles schien so einfach. Wasyl Jurjewitsch, wollte er rufen, erkennen Sie mich nicht? Gut, Sie können mich ja gar nicht kennen, aber ich habe Ihre Mutter sehr gut … das heißt die Frau, bei der Ihre Mutter als Kindermädchen arbeitete. Und Ihren Vater, nun, leider nicht mehr kennengelernt, aber dafür mache ich Ihnen ein Geschenk: Behalten Sie den Wagen. Ich weiß, wie wichtig er für Sie ist. Ein Geschenk Ihres Vaters. Ich weiß alles.
    Dann – mit einem fatalen Schlag – begriff er, dass alles vergebens war. Er fuhr in die Tasche seines Jacketts, tastete nach dem rostigen Griff der alten Mauser.
    Er hörte noch das leise Plopp, als würde eine Sektflasche geöffnet, und wusste, etwas war passiert. Aber was bezeichnet man nicht alles als Wissen? Ist es Wissen, wenn man sich einer Sache ganz sicher ist, aber keinen Namen dafür hat? Es war offensichtlich, dass dieser Mann ihm etwas geben wollte, aber er konnte nicht sprechen, jedenfalls drückte er sich nicht klar aus. Konrad verstand nur Plopp.
     
    Bevor die Kugel
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