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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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Gedanken machen. Praktische Gedanken müssen das nicht sein, sie braucht nur das Gefühl, kritisch eingestellt zu sein, diese fortschrittliche Art von Lebensgefühl.
    Dachte Konrad, wobei sein Fuß sich unmerklich vom Gaspedal hob.
    Damals bei der Demo vor dem Amerika-Haus hatte sie in der vordersten Reihe gestanden und Pflastersteine geworfen. Ihre mit hellem Flaum bewachsenen, von den Sommermonaten auf Kreta braungebrannten Unterarme ragten aus den abgeschnittenen Ärmeln des Parkas. Damals kämpfte sie. Und er glaubte, sie würden etwas ändern können.
    Heute Nachmittag hat sie Yoga um die Ecke, in einem Ladengeschäft, in dem so eine Frau ähnlich wie sie selbst Kurse anbietet. Dass überhaupt eine Frau ihr ähnlich sein kann, sagt schon alles. Früher wäre das unmöglich gewesen. Ihre Lebensmittel kauft sie im Bioladen. Kaffee aus Guatemala. Sie hat eingesehen, dass der frontale Kampf gegen das System keine Chance hat. Deshalb konzentriert sie sich nun auf die bescheidenen Dinge, die Graswurzelarbeit, den Widerstand im Kleinen, von dem sie gern erzählt. Gegen das Große da draußen unternimmt sie nichts mehr, diese Bewegung ist über sie hinweggegangen, sie hat sich damit abgefunden. Früher hat sie gern fotografiert, der ganze Flur hängt voll mit ihren Schwarzweißfotos, heute besitzt sie einen kleinen Laden für Fotozubehör und verdient damit, immer schlechter, ihr Geld. Sie reibt sich nicht mehr auf im Kampf. Stattdessen genießt sie ihr Leben bewusst, mag gutes Essen.
    Im Osten geht tatsächlich die Sonne auf. Als er in Schönefeld den Berliner Ring verlässt und die immer geradeaus führende Fahrbahn nimmt, steht der goldrote, funkelnd warme Ball dicht über dem Horizont.
    Die Autobahn Richtung Frankfurt/Oder ist leer.
    Aus der Gegenrichtung, Grenze und Fürstenwalde, kommen ihm Pkws entgegen, die nach Berlin wollen, zur Arbeit. Ihn bringen höchstens ein paar Lkws zum Überholen. Deutschlands östliche Länder liegen wüst und leer. Die weiten Äcker und Felder der ehemaligen LPG s, die grauen Wirtschaftsgebäude aus Beton und Eternit wirken verlassen. Ab und zu huscht im Augenwinkel eine Siedlung vorüber, ein Dorf, Schemen von Scheunen oder Lagerhallen. Er kennt diese adretten, aufgeräumten Orte.
    Er freut sich auf Polen. Polen durchdringt auch die geschlossenen Fenster, man braucht nicht einmal die Autotür zu öffnen. Im Winter der Rauch der Braunkohle aus den Schornsteinen, das Holz in den Dörfern. In Słubice ist dieser Geruch noch schwach, Słubice ist verdorbenes Slawentum, ein aufgegebenes deutsches Dorf, das noch zu keiner neuen Identität gefunden hat.
    Er hat ihr nie gesagt, was er genau tut. Recherchieren, das klingt gut. Für wen, für eine Zeitung? Nein, für ein großes Unternehmen in Westdeutschland. Das erzählt er auch Freunden, das leuchtet am ehesten ein. Wenn er ehrlich ist, hat es weniger mit Diskretion zu tun als mit Scham. Denn gestohlene Autos zu suchen, dieser Job ist ihm peinlich, wenn er an die Pläne und Visionen der Studentenzeit denkt.
    Die Sonne steht jetzt schon sehr hoch, sie blendet. Er klappt den Sonnenschutz herunter. Einmal hat er einen Sportwagen gesehen, der unter einen Lkw gerutscht war, auf der Autobahn nach Memel. Es roch verbrannt.
    Jetzt wittert er diesem Geruch nach, erinnert sich aber nur an den heißen, widerlichen Plastikgestank, wenn er in den Sommerferien am Rastplatz wieder ins Auto stieg, das von der Sonne aufgeheizt war. In der kurzen grauen Lederhose mit den geschnitzten weißen Enzianknöpfen und der fettig dunkel gescheuerten Hinterseite verbrannte er sich regelmäßig die Schenkel auf den Kunststoffsitzbezügen. Aus der Motorhaube stanken Ölwanne und heiße Gummischläuche. Nach der Rast öffnete sein Vater die Türen und ließ kurz Luft hindurchwehen, dann gab er einen Wink und drückte seine Zigarette auf dem Boden aus. Das empfand er wie eine Drohung, was mit ihm geschehen würde, wenn er nicht sofort einstiege. Der Vater stand da, die rechte Hand an der Tür, glänzend spannte der graue Anzugstoff um seinen breiten Gorillarücken. Was sollte Konrad tun? Gegen den Vater kam er nicht an. Die Mutter sieht er nicht in der Erinnerung. Als wäre sie schon damals verschwunden gewesen. Mag sein, dass sie schon immer zu leichtgewichtig gewesen war, zu flüchtig, zu hell, zu wenig eindrücklich, wie durchscheinend. Manchmal kommt es ihm vor, als sei sie nichts weiter gewesen als eine Luftverquirlung, ein Flimmern der aufgeheizten Sommerluft, das
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