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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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Berliner Werkstatt auf diesen Hinterhof in Słubice mitgenommen. Konrad spürte die Rippen des mageren Tieres an seinen Knien.
    Das Herrchen war besser genährt.
    Es saß unten in der Reparaturgrube und dachte gar nicht daran, sofort zu ihm herauszuklettern. Jacek klopfte die Radaufhängungen und Querlenker eines alten Opel ab. Vor der Stoßstange schwankte eine nackte Glühbirne im Gitterkäfig. Konrad kannte den von Öl verschmierten, untersetzten und doch behänden Mann aus Berlin, wo Konrad seine immer alten und billigen Autos bei ihm hatte reparieren lassen.
    Jacek konnte in der Hinsicht fast alles; vor allem half er Konrad aber bei der Suche nach gestohlenen Autos. Auch damit erschöpften sich seine Begabungen nicht. Er vermochte ewig über die große Politik zu dozieren und tat das mit derart rhetorischer Selbstsicherheit, dass man sich fragte, weshalb er sich hier immer noch mit Autokarosserien dreckig machte. Konrad kam sich mit dem formlos angehäuften Wissen seines abgebrochenen Studiums im Vergleich dazu ganz weich vor. Keinen einzigen Satz brachte er so überzeugend wie Jacek hervor. Einmal hatte Jacek rücklings unter einem Auto gelegen, für einen Augenblick den Schlüssel sinken lassen und gesagt:
    «Wir leben in einer Übergangszeit.»
    Konrad kam mit einer Tasse aus dem Kabuff zurück, das als Büro diente, rührte im Nescafé und war beeindruckt.
    Jacek zog die Mutter fest.
    «Wir brauchen neue Vordenker», erklärte er. Neben der kleinen Werkstatt betrieb Jacek einen Abschleppdienst, die Grenzen zwischen den Gewerben sind fließend. Jacek schleppte auch Autos ab, die ihm nicht gehörten und von denen bald niemand mehr wusste, wem sie je gehört hatten. Das interessierte Konrad aber nicht. Er brauchte Jaceks Tipps, der fast immer wusste, welches Auto wann über die Grenze gebracht worden war.
    Jetzt kletterte er endlich aus der Grube, wischte sich die Maulwurfspranken, viel zu groß für den gedrungenen Körper, an einem groben Tuch ab und schob ihm die Hand hin, in der Konrad seine eigene immer gern ein paar Sekunden ruhen ließ. Die Furchen waren schwarz von Motoröl.
    «Gut durch die Zone gekommen?», lachte der Pole.
    «Gibt’s ja nicht mehr», winkte Konrad ab.
    «Kein Wunder, die wollten ja gar nicht frei sein, haben sich sofort dem nächsten großen Bruder an den Hals geschmissen», dozierte Jacek schon.
    «Ja, ja.»
    Heute hatte Konrad keine Zeit und keine Lust auf diese Diskussionen. Früher war das anders gewesen, an endlos langen Nachmittagen auf dem dunklen Werkstatthof in Schöneberg, als er sein ganzes Leben noch vor sich wähnte und mit den Fragen seiner Magisterarbeit auch gleich die Probleme der Menschheit zu lösen glaubte. Als Marlene noch nicht aufgegeben hatte, als sie noch eine Sparringspartnerin war, mit der man sich nach überstandenem Kampf vereinigen konnte. Heute war da nichts mehr, heute musste er nur schnell weg, das Auto suchen, weiter im Osten. Wen hätte er auch vor Jacek in Schutz nehmen sollen? Die unrasierten Männer, denen er morgens im Supermarkt in Hellersdorf begegnete, nach der Nachtschicht in Hoppegarten zwei S-Bahn-Stationen weiter westlich? Es zog ihn unwiderstehlich in die großen, leeren Einkaufshallen, die nach der Wende entstanden waren. Real. Netto. Ganz egal. Manchmal ging er hinein, ohne etwas zu brauchen. Nur um die Räume und die Kassiererinnen auf sich wirken zu lassen. Sie waren anders als die im alten Westen. Munter wie Fische im Wasser, als spürten sie noch den Zusammenhalt des VEB -Kollektivs. Glockenhell riefen sie sich Scherze zu, lachten über Transportbänder und wartende Kunden hinweg. Als wäre es ein Glück, hier zu arbeiten, und alles im Leben immer nur halb so schlimm. So wie damals.
    Was wirklich passiert war, sah man an den Männern. Er begegnete ihnen in den Gängen, sie verrieten sich durch einen halb kindisch-beleidigten, halb lüstern-frechen Lippenausdruck. Verschlagene Blicke, Hände, rotglänzend wie die von Neugeborenen, die den Einkaufswagen schoben. Es waren Männer, deren bisheriger Lebensgang, von Lauf kann man ja schwerlich sprechen, einen schmerzhaften Dämpfer erlitten hatte. Sie fühlten sich ungerecht behandelt. Weil sie gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatten, ließen sie sich alles gefallen. Nur der Biervorrat musste pünktlich aufgefüllt werden. Konrad ging gern durch diese Märkte. Hier konnte er, selbst ein Nachtwächter, sich mit dem Anblick der anderen Menschen trösten. Einige von ihnen machten
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