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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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zwei Schritt zurück.
    «Wissen Sie, wie sich das anfühlt, auf dem Boden von Rschew zu stehen?»
    «Nein. Hab auch keine Zeit», sagte Konrad und wollte weglaufen, da trat dieser Mann erstaunlich rasch heran und erwischte ihn am Ellbogenknorpel, ein äußerst unangenehmes Gefühl. Konrad riss sich los.
    «Das können Sie auch gar nicht wissen», rief der Mann beinahe wütend. «Sie sind zu jung. Es fühlt sich an, als stünde man zum ersten Mal wirklich auf Festland. Gerettet vor den Küsten. Man wendet sich nach Westen und weiß noch: Irgendwo weit dort drüben ist die Reichshauptstadt.»
    Er drehte sich zum schmalen Ende des Sees, wo hinter einer Landzunge der Wannsee liegen musste.
    «Verstehen Sie?» Er zuckte verächtlich die Schultern. «Berlin. So weit, dass es ganz klein wird, ganz unwichtig, genau wie die Menschen, die man zurückgelassen hat. Die Frauen verlieren ihre Gewalt über dich. Der Himmel wölbt sich über dir, und du weißt: Überall ist Land, ringsum bis zum Horizont. Festland, festes Land.»
    Er hatte sich in Rage geredet, was sein Gesicht auf erschreckende Weise formlos und lebendig werden ließ. Als wäre unter dieser Maske jahrelang alles zurückgehalten und verklemmt gewesen. Seine Augen tränten.
    Konrad wollte etwas erwidern, doch der Mann machte eine herrische Armbewegung: «Über die zugefrorene Newa. Attackengeschrei. Rennende Leute. Fallen ringsum, sterben wie die Fliegen. Du spürst nichts mehr, du hast keine Angst, nur diese Sicherheit, dass du nicht allein bist, dass hinter dir und neben dir deine Kameraden rennen. Dein Volk. Riesengroß wirst du, wirst selbst ein ganzes Volk. Oder im Flugzeug hinter den Russen her.»
    «Was Sie da von den Frauen sagten …», setzte Konrad an, ermutigt vom vertraulichen «du».
    «Im Tiefflug geht es die verschneite Straße entlang, auf der sich eine schwarze Ameisenkolonne bewegt. Der Feind! Wie das auseinanderspritzt bei jeder Garbe des Bord- MG , wie das seitwärts in den Schnee hechtet und für immer liegen bleibt.»
    Er setzte seinen Hut wieder auf, drehte sich wortlos um und ging.
    «Frauen!» Nach wenigen Schritten blieb er noch einmal stehen und spuckte aus. «Damals wusste man, wofür man starb! Da brauchte man kein Nazi zu sein. Wer hat denn schon alles geglaubt? Aber dieses Gefühl der Befreiung … die Hoffnung. Sie haben diese Erniedrigung des deutschen Volkes nicht erlebt. Sie wissen nicht …»
    Konrad wollte etwas sagen, aber der Mann hörte überhaupt nicht mehr zu, er brüllte:
    «Nichts wissen Sie! Irgendwo dort, wo das Auge nicht mehr hinreichte, wo nur Schnee und Sonnenglast am Horizont war, dort lag ein Ziel. Dieses gute Gefühl, dass nicht alles vergebens und verflucht ist, die Hoffnung, dass dort wenigstens irgendetwas ist …»
    Jetzt drehte Konrad sich um und lief weg, das war das Einzige, was er tun konnte. Dann, aus einiger Entfernung, hörte er die Worte:
    «Deutscher Junge!»
    Er wandte den Kopf im Laufen, da stand dieser Mann mit hängenden Armen mitten auf dem Weg und sprach diese idiotischen Worte aus. Konrad hätte fast gelacht über die einsame Vogelscheuche:
    «Deutscher Junge!»
    Das kann man sagen, so oft man will, es wird nicht besser davon. Im Gegenteil, das Wort «deutsch» klirrt nur immer leerer und leerer, am Ende klingt es wie zehnmal selbst- und noch immer unbefriedigt.
    Und erst in dieser Verbindung. «Deutscher Junge!» war geschmacklos. Eigenschaftswort und Hauptwort berührten sich, rieben aneinander wie ein nass geschwitztes Nylonhemd und wundgescheuerte Haut. Ein Bedeutungsscheusal. Ein Junge ist ein Junge, aber ein deutscher? Ein blonder Junge, das wäre etwas. Oder ein schwarzer.
    Am Ende hatte der Mann seinen Mantel doch aufgemacht.
    Konrad rannte weg. «Nazischwein», rief er, schon aus sicherer Entfernung, und ärgerte sich, dass seine Stimme so hoch war.
    Da hörte er den Mann fragen, unsicher wie ein Blinder:
    «Konrad?»
     
    Das war sein Onkel. So hatte es angefangen. Zugegeben, eine schwierige Geschichte. Onkel Wolfgang war etwas anderes als die üblichen seltsamen und schrulligen Onkel, die es in jeder Familie gibt. Er war wie ein Gift. Alle warnten Konrad davor, mit diesem Mann Kontakt aufzunehmen. Noch am Grab des Vaters zog eine Frau ihn am Ärmel und sagte: «Lassen Sie endlich den Jungen in Ruhe.» Marlene entwickelte sofort einen instinktiven Hass auf ihn. Aber Konrads Neugier war geweckt. Beim Joggen hatte er mehrere Male einen Umweg gemacht, um wenigstens an dem kleinen
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