Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
Vom Netzwerk:
Mannes beschädigt.»
    Die Frau musste mindestens siebzig sein, sie war nicht groß, stand aber gerade und aufrecht in ihrem straff sitzenden, schwarzen Kostüm in der Tür. An der Decke des langen Flurs hinter ihr brannte eine nackte Glühbirne. Ihr Haar war noch immer schwarz, vermutlich gefärbt, darin einzelne graue Strähnen. Ihre dunklen Augen sahen ihn klar, fast durchdringend an. Das war keine verhuschte Babuschka, obwohl sie zweifellos ein bisschen erschrocken war.
    «Meines Mannes?»
    «Ja. Jurij Solowjow. Er ist doch der Halter des Mercedes. Kann ich ihn sprechen?»
    Sie sah Konrad vorwurfsvoll und kopfschüttelnd an.
    «Was reden Sie denn. Mein Mann ist doch schon gestorben.»
    Sie drückte die Tür zu. Nicht, wie man sie einem Vertreter vor der Nase zuknallt, eher, als rechnete sie noch mit einer Erklärung. Bis zuletzt blieb sie in dem Türspalt stehen.
    Aber er sagte nichts mehr, den Gefallen tat er ihr nicht. Er hatte sie gesehen, das genügte, denn seiner Erfahrung nach war es so: Wenn man einmal einen Zipfel in Händen hält, darf man keinesfalls mehr loslassen. An so einem Zipfel, wie klein er auch sein mag, hängt immer die ganze Geschichte, der ganze Schlamassel. Jede Tat ist leichter getan, als ihre Spuren beseitigt sind. Irgendeine Winzigkeit bleibt immer zurück, und dann geht dort jemand vorbei und bekommt den Geruch in die Nase. Einen Geruch so fein, dass man ihn im ersten Augenblick für Einbildung hält, so hoch oben in den Nebenhöhlen, dass er fast schon Gedanke ist. Knoblauch in heißem Olivenöl oder das splitternde Holz des Faulbaums, so dezent, dass man sich wundert, dass er einem überhaupt aufgefallen ist. So einen Geruch darf man nicht übergehen. Ihm muss man seine ganze Aufmerksamkeit schenken, muss ihm nachgehen.
    Deshalb schob er jetzt auch keinen Fuß in die Tür. Er war ruhig stehen geblieben, hatte ihrem Blick bis zuletzt standgehalten und sich erst umgedreht, als die Tür ins Schloss gefallen war. Er wusste, dass sie ihn durch den Spion beobachtete.
    Geradezu beschwingt verließ er das Haus, die Aufregung hatte ihn belebt.
    Sie hatte ihr Gesicht gezeigt. Und ohne es zu wollen, hatte sie ihm auf Anhieb eine Menge verraten. Dass sie die Frau von Jurij Solowjow war, sie hatte ja nicht widersprochen. Und dass dieser Jurij schon tot war. Zwei wichtige Dinge.
    Und merkwürdig, dieses Wort, «gestorben» hatte sie gesagt, nicht «tot». Wer fuhr denn dann jetzt mit dem Mercedes durch Kiew, ein Gestorbener? Und warum «schon»? Bei einem Mann von fast neunzig Jahren?
    Immerhin, und das war das Allerwichtigste, hatte sie überhaupt etwas gesagt. Gelogen oder nicht, das war erst einmal gleichgültig. Konrad hatte sich daran gewöhnt, mit Lügen zu leben. Eine Lüge ist immer noch besser als Schweigen. Alles ist besser als dieses wochenlange Schweigen, das sich irgendwann zu Monaten ausgedehnt hat und nun anfängt, schlecht zu werden, in die Jahre hineinzuwachsen, ein am Ende uferloses Schweigen, das dennoch immer noch schmerzt wie am ersten Tag. Ein Schweigen, das einem die Luft zum Atmen abschnürt. So dass man nur ganz flach atmen kann, nur noch Ersatzluft, die einem das Gefühl gibt, alles andere auf der Welt wäre nur Ersatz.
    Er war ihr doch nicht zu nahegetreten.
    Er hatte nur nach dem Auto ihres Mannes gefragt.
     
    Draußen auf der Straße atmete Konrad tief durch. Touristen grölten an ihm vorbei, Amerikaner. Eine Frau aus der Gruppe konnte den Blick nicht von seinem Gesicht lösen, als hätte sie erkannt, dass er nicht hierhergehörte.
    Ihm war nach Tanz zumute. Nach Gesang. Nach dieser Begegnung musste er erst einmal verschnaufen. Das war doch etwas, mit einem einzigen mutigen Schritt war er ein gutes Stück weitergekommen. Hinein in dieses andere Leben, von dem er vorher nichts kannte als die spärlichen Angaben auf dem Versicherungsformular. Solche Fragebögen enthalten immer nur die sprödesten Daten. Name, Adresse, Geburtstag. Für den geübten Blick allerdings ist schon das Geburtsjahr, diese weit entfernte, schwankende Boje im einförmig grauen Nebel des Jahrhunderts, ein vielsagendes Faktum.
    Er balancierte auf den löchrigen Gehsteigen, lief über die wackligen Treppen der Unterführungen, bis er sich glücklich den Fuß umknickte, kam spät ins Hotel zurück. Gegen seine Gewohnheit ging er in die Hotelbar, aß endlich einen Happen und trank zwei Tschernigower Pils. Auf dem Zimmer schaltete er den Fernseher ein und ließ sich rückwärts auf das breite Bett
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher