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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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übereinander, wie Zeichnungen auf Pauspapier. Wo sich etwas wiederholte, verstärkten sich die Umrisse und ließen Konturen eines Bildes hervortreten.
    Das Programm des ukrainischen Senders lief weiter, und alle halbe Stunde, zur Kaffeereklame, glaubte er, ihr geschicktes Stöhnen zu hören, und roch ihr Parfüm und eine Spur von süßem Achselschweiß. Die Filme liefen in russischer Sprache, diese Reklame auf Ukrainisch. Er konnte die Fernbedienung nicht finden und sich nicht aufraffen, aufzustehen und den Apparat direkt auszuschalten. Irgendwann ging er doch ans Fenster, schob den Vorhang zur Seite und blickte auf die Fahrbahnen des Rondos hinab. Um diese Zeit fuhren nur einzelne Autos vorbei. Eine Weile beobachtete er den Verkehr. Vielleicht schwamm ja dort draußen im diesigen Laternenlicht plötzlich der 500   SE vorbei, wie ein Traumschiff. Vielleicht genoss der Neunzigjährige es, um vier Uhr morgens mit seinem Beutefahrzeug durch die Stadt zu gleiten. Ein ehemaliger Parteibonze, der sein Geld über die Wende gerettet hat, oder ein Geheimdienstler. Vielleicht auch der Vater eines Oligarchen, dem sein Sohn ein Geschenk zum runden Geburtstag gemacht hat. Womöglich hatte er sogar einen Chauffeur. Aber außer zwei Betrunkenen, die sich anbrüllten, konnte Konrad nichts entdecken. In diesem Moment schien es ihm ganz unwahrscheinlich, dass der Wagen tatsächlich noch in der Stadt sein sollte. Vermutlich war er längst weiter nach Moskau oder Almaty verschoben worden, und er jagte ein Phantom. Möglicherweise hatte er durch den Besuch bei Solowjows Frau alle Beteiligten aufgescheucht. Nein, das war wohl doch keine gute Idee gewesen, in dieser Hinsicht.
    Er ging unter die Dusche und seifte sich noch einmal ein. Vom Bad aus sah er den Widerschein der bunten Fernsehbilder auf der Zimmerwand flackern, hörte die gedämpften Stimmen. Das Hotelzimmer war zu groß für ihn. Er brauchte kein Doppelbett.
    Konrad war jetzt bald achtunddreißig, aber manchmal wunderte er sich immer noch über sich selbst.
     
    Am anderen Morgen ärgerte er sich über seine Offenherzigkeit, er hatte viel zu viel geredet. Jetzt suchte er wie ein ängstlicher Kleinbürger das Hotelzimmer nach Spuren der Nacht ab. Dabei wusste das Hotelpersonal ohnehin Bescheid, die Rezeption hatte ihn ja aus der Gästeliste herausgesucht. Mit dieser ebenso beruhigenden wie unangenehmen Erkenntnis ging er in den Frühstückssaal, kippte einen Kaffee hinunter, ließ die heißen Eierkuchen mit Marmelade und den Grießbrei stehen und machte sich auf den Weg in die Stadt.
    Mazepas kleines Büro befand sich in der Chmelnickijstraße in einem jener Neubauten, die überall aus dem Baugrund schossen. Ein blassgrünes Mietshaus aus den dreißiger Jahren, längst dem Untergang geweiht, schmiegte sich noch an die Hochhausfassade aus schwarzen Kunststeinfliesen. Eine Kamera überwachte den Haupteingang.
    Jurko Mazepa wirkte so hellwach, dass Konrad sich auf der Stelle unfrisch und unausgeschlafen vorkam.
    Wangen und Kinn des Brünetten waren frisch rasiert, die helle Haut glänzte vom Rasierwasser und war punktiert von schwarzen Haarstümpfen, das kräftige Haupthaar feucht nach hinten gekämmt. Der Mann wusste, wie gut er aussah. Während seinen eigenen Fingern immer noch der Geruch nach Frau anhaftete, den mehrmaliges Waschen nicht wegbekommen hatte, duftete Mazepa nach einem jener prickelnden Aftershaves, die Konrad in Berlin bisweilen zum Wechsel des S-Bahn-Waggons veranlassten. Hier nahm er diese dezente Körperverletzung in Kauf. Man erträgt Dinge leichter, wenn sie einer anderen Wirklichkeit angehören. In wenigen Tagen würde er nach Berlin zurückfahren, am Lenkrad eines Mercedes 500   SE . Dann konnte er die Szenen ausknipsen wie mit der Fernbedienung.
    Ohnehin war er fasziniert von diesem Mann. Ist es nicht merkwürdig, dass nach politischen Umschwüngen die Menschen, die im alten System in guten Positionen waren, auch in dem neuen bald wieder oben schwimmen? Während viele von denen, die zuvor gelitten hatten oder sich einfach nur innerlich abwandten und in ihre Nischen zurückzogen, auch unter den neuen Verhältnissen nicht aus dem Halbdunkel herausfinden, sich nicht neu einrichten können in der gewandelten Gesellschaft? So als wären sie unentrinnbar in ihren alten Verletzungen gefangen, abhängig davon, als bräuchten sie die ewige Zurücksetzung, um sich lebendig zu fühlen.
    «Freut mich, Sie kennenzulernen. Wie war Ihre Fahrt? Möchten Sie einen
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