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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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Fahrzeughalter. Einem angeblich fast Neunzigjährigen. Dazu die Fahrgestellnummer und das Kennzeichen. Allein würde er nicht mehr herausbekommen, weder bei der Polizei noch auf dem Zulassungsamt, also war er ganz von diesem Anwalt abhängig.
    «Bei diesen Banden gibt es eine Hierarchie», hatte Muschter erklärt. «Die Leute, die hier bei uns die Drecksarbeit erledigen, verdienen am wenigsten. Andere, die die Wagen weiter nach Osten verschieben, kriegen tausend oder fünfzehnhundert Mark auf die Hand, und das sind immer noch arme Schlucker, die ihre Hintermänner gar nicht kennen. Die verdienen richtig daran.»
    Im Grunde machte auch Konrad die Drecksarbeit, nur andersherum.
    Je länger er auf der Dnjeprinsel herumlief und grübelte, weshalb die Versicherung sich seinen Einsatz so viel kosten ließ, desto unruhiger wurde er. In diesem Zustand brauchte er nicht ins Hotel zu gehen, an Schlaf war nicht zu denken. Irgendwann blieb er stehen, zog den Stadtplan von Kiew heraus, breitete ihn auf einer bröckelnden Ufermauer aus und suchte nach der Adresse. Lemberger Platz, Ecke Artjomstraße. Ausgang der Vorowskij. Altstadt.
    So könnte er sich doch wenigstens von weitem schon einmal ansehen, wo dieser Solowjow wohnte. Aus purer Neugier. Außerdem, man stelle sich vor, der Mercedes würde dort vor der Haustür stehen. Er hatte keinen rostigen Nagel in der Hosentasche, aber mindestens einen Finger würde er auf den Kotflügel legen, so viel war sicher. Und er wäre wieder der Held, der Fall in Rekordzeit gelöst.
    Die schmalen Altstadtstraßen, die vom Kreschtschatik bergan führten, brachten ihn bald außer Atem. Er nahm bewusst nicht den kürzesten Weg. Als er sich schon in der Nähe des Hauses wusste, bog er noch einmal nach links ab und machte einen Umweg. Er genoss das Gefühl, sein ahnungsloses Ziel zu umkreisen. Er wollte den Anblick des Hauses verzögern. Die großen Torbögen der alten Mietshäuser gaben den Blick auf Hinterhöfe und Gartenhäuser frei. Er spazierte hier und dort hinein, sah sich um, entdeckte interessante Garagen und Schuppen. Falls der Wagen irgendwo versteckt war, dann vermutlich zwischen solchen verwinkelten Gebäuden.
    Er fand nichts.
     
    Als er das Haus erreichte, zeichneten sich dessen Ziegel im Dämmerlicht der Straßenlaterne in einer unerkennbaren Farbe ab. Über dem linken Dnjeprufer, in Richtung Moskau, hing blass und pockennarbig der zunehmende Mond. Das war eigentlich ein gutes Omen. Im zweiten Stock hatte jemand das Licht eingeschaltet, die anderen Fenster waren dunkel.
    Neben der Haustür fand er ein Metallschild mit acht Knöpfchen, ohne Nummern und Namen. Nur diese kleinen Knöpfchen. Konrad drückte versuchsweise gegen den runden Griff, die Tür ging auf, sie war nur angelehnt.
    Jetzt wurde er ein bisschen nervös. Selbst wenn dieser Jurij Solowjow schon neunzig war, die sehnige Wut des Alters kann schmerzhaft sein.
    Die Anmutung dieses Treppenhauses im Zentrum von Kiew, in einem Gebäude, das noch aus vorrevolutionärer, spätestens stalinistischer Zeit stammte, war nach allem, was sich hier zugetragen haben musste, erstaunlich bürgerlich. Nichts kündete von Gefahr. Der Kokosteppich auf den hellen Steinstufen dämpfte das Geräusch seiner Schritte, kurz überkam Konrad sogar ein Gefühl, als sei er nicht fremd hier, sondern nach langer Irrfahrt zurückgekommen. Es roch anders als in der Mansteinstraße, anders als im Treppenhaus bei Marlene in Steglitz. Nicht nach Reinigungsmitteln, nicht nach Bohnerwachs oder wochentäglichem Eintopf, auch nicht nach dem Erkennungsgeruch des bürgerlichen deutschen Sonntags, dem säuerlich-bitteren, angebrannten Braten, bei dem einem sofort der schwarze Fleischrand vor Augen steht. Es war aber auch nicht allein die Summe von Roten Beten, Rindfleisch, Fett und Knoblauch. Es war noch etwas anderes, das er nicht definieren konnte. Katzenpisse vielleicht. Etwas von einem wilden Tier.
    Du kommst in ein fremdes Land und glaubst plötzlich, du wärst schon einmal da gewesen. Als hättest du etwas aus deinem Leben vergessen, als wäre dir dieses Etwas – diese Heimat – vor langer Zeit ausgetrieben worden, ohne dass du dich daran erinnern könntest.
    «Was wollen Sie?»
    Konrad erschrak. Er war bereits im zweiten Stock, die erleuchtete Wohnung war die richtige, sein Finger hatte schon auf den Klingelknopf gedrückt. Die Stimme klang nicht sehr freundlich.
    «Ich bin unten auf dem Parkplatz vorbeigefahren und habe versehentlich das Auto Ihres
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