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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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dem Fluchtweg und der Witterung nur ein und wollte sich bloß länger in der gedankenlosen Trance des Autofahrens wiegen.
    Die Strecke zwischen Frankfurt/Oder und Warschau bietet Monotonie genug, um den Gedanken nachzuhängen. Um einfach zu vergessen. Bestimmt zum zehnten Mal sang Keith Richards dröge Stimme «Slipping Away», immer wieder drehte Konrad die Kassette um. Er dachte an seinen Onkel. Gestern, nein, zwei Tage war es her, als er einfach auf seinem Stuhl zusammensackte. Als Kind musste er dem Bruder seiner Mutter einmal sehr nahe gewesen sein. Aber er konnte sich nicht erinnern, und das war durchaus ein Problem für ihn. Erst bei der Beerdigung seines Vaters vor einem Jahr war er ihm wiederbegegnet. Danach hatte Konrad noch fast ein Jahr gezögert, bevor er ihn am Schlachtensee besuchte. Um ihm irgendwie zu imponieren, hatte Konrad ihm einen polnischen Roman geschenkt, über den er mal eine Uniarbeit geschrieben hatte.
    «Wenn man da nachgräbt, ist es gedanklich ziemlich flach», hatte der Onkel gemeint. «Bunte Schreibkunst, erschöpft sich aber schnell nach dem ersten Glanz der Metaphern. Nimm’s mir nicht übel, wir kennen uns doch ganz gut, wenn auch erst seit kurzem wieder. Mir kommt es vor, der Schreiber lupft den Rock zur Pirouette und meint, damit hätte er die Welt schon bezirzt und bräuchte ihr nicht mehr mannhaft gegenüberzutreten, nämlich mit einem echten Gedanken. Will durch aufgeplusterte Bilder verblüffen und verführen. So wie kleine Jungs. Die sind noch wie Mädchen, reden unheimlich viel. Was meinst du, was du als Kind geplappert hast. Hast damals auch gern Röckchen getragen. Weißt du noch? Dieses grüne, mit Falten.»
    Konrad konnte sich an nichts davon erinnern, und es war ihm unangenehm, dass Onkel Wolfgang mehr aus seinem Leben wusste als er selbst.
    «In dem Alter ist das normal», fuhr der Onkel fort. «Aber nach der Pubertät wird so was unappetitlich. Dein Autor ist längst erwachsen, aber er will immer noch grotesk und verwirrend sein, die Köpfe verdrehen. Schöne Oberfläche und kein Gedanke dahinter. Deswegen müssen sie so viel von der ‹Seele› reden.»
    «Wer?», hatte Konrad, leicht beunruhigt, gefragt.
    «Die Slawen. Oder hast du schon mal was vom ‹russischen Denken› gehört? Dafür hört man ständig von der sogenannten ‹russischen Seele›. Das Gedankliche ist ihnen zweitrangig. Versteh mich nicht falsch: Rechnen, Kombinatorik, da sind sie gut. Schachspielen, Technik und so was. Staudämme bauen, Flüsse umleiten. Programmieren. Aber das wahre Denken – weißt du, was ich meine? Mit der Welt auf Augenhöhe sprechen. Von Mann zu Mann. Wenn du so willst – Liebe machen mit der Wirklichkeit.»
    Der Onkel ballte seine rechte Faust.
    Konrad war auf seinem Stuhl abgerückt. Onkel Wolfgang hatte ihm bei so einer Gelegenheit schon einmal die Hand auf den Oberschenkel gelegt. Russische Seele, Zweiter Weltkrieg, jedes Thema war dafür Gelegenheit genug. Ganz besonders die harten Körper der Soldaten, die im Kampf auf ihren wahren Wert gewogen wurden … Die alten Wochenschaufilme flimmerten auf dem Bildschirm im Wohnzimmer. Hysterisch klirrte die siegestaumelnde Stimme des Sprechers, und irgendwann tauchte immer Adolf Hitler auf und schritt eine Reihe von Volkssturmleuten ab. Vor einem etwa Fünfzehnjährigen blieb er stehen, strich ihm über den Kopf und stieß die Worte «Deutscher Junge!» aus.
    Bei Vaters Beerdigung hatte sich ein älterer Mann im Trenchcoat aus der Menge der Trauergäste gelöst und war auf ihn zugekommen: «Also doch, Rüdigers Sohn. Der Ausdauerläufer. Erkennst du mich nicht?»
    Konrad war dem Mann einige Zeit zuvor am Schlachtensee begegnet. Er hatte gerade seine Joggingschuhe festgeschnürt, da sah er über sich diesen Schatten. Ein alter Mann im schwarzen Filzmantel, der sich auf dem Weg kaum so rasch genähert haben konnte, er musste aus dem seitlichen Gebüsch getreten sein.
    «Wie ist die Form?», erkundigte sich der Fremde.
    «Na ja», druckste Konrad.
    «Wir trieben damals auch Sport», erklärte der Mann und hielt am gegenüberliegenden Seeufer nach Umrissen seiner Vergangenheit Ausschau. Dann fügte er hinzu:
    «Im Offizierslehrgang.»
    «Und heute nicht mehr?», fragte Konrad, obwohl die Frage angesichts seines Alters und der ganzen Gestalt absurd war.
    «Sie wissen ja, wie das damals ging. Plötzlich hieß es: Nach Osten. An die Front.»
    Konrad machte einige Rumpfbeugen, bemerkte, dass er sich vor ihm verbeugte und wich
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