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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn
Autoren: Olaf Kühl
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Er kam zu spät, konnte nichts mehr retten, dennoch waren die Erleichterung und die Freude unglaublich groß. Als hätte er, Konrad, sich diese grauenhafte Trennung und seinen Schmerz immer nur eingebildet. Sie lächelte ihm zu, die Luft in diesem dunklen Raum war staubig, doch ihr Blick durchbrach sie wie ein Sonnenstrahl. Ihr Körper ruhte sanft und matt, weiß und undeutlich, sie machte keine Anstalten aufzustehen, hob nicht einmal die Hand zum Gruß. Offensichtlich war sie trotz ihrer Heiterkeit doch sehr geschwächt. Wie jemand, der lange vergessen worden ist. Konrad erschrak. Hatte er sie hier vergessen?
    Er näherte sich behutsam, er war ja ein gebranntes Kind, wusste, was passieren konnte. Besonders ihr Gesicht musste er im Auge behalten, den unruhigsten und tückischsten Teil, es konnte sich jederzeit verändern, er kannte das. Es konnte schlagartig altern, Pocken konnten aus der glatten Wange hervorplatzen, die Haut zerfurchen, vom Fleisch abfallen … Und sie würde ihn angrinsen wie ein blutiger Totenkopf.
    Doch nein, diesmal nicht, ihre Augen strahlten wie bei einer jungen Frau, und er konnte nicht widerstehen. Er vergaß alle Bedenken. Er musste ans Sofa treten, die Decke nehmen und sie über ihren Körper breiten. Sie sprachen kein Wort, es war kalt in der ungeheizten Mansarde. Dann, als er sich umdrehte, sah er zwei Männer in der Ecke kauern und mit scheelen Blicken herübersehen. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was diese Männer hier suchten. Vermutlich musste seine Mutter sie als Untermieter dulden, denn sie brauchte das Geld. Nicht nur die Atemluft war ihr mit den Jahren knapp geworden, sie war auch völlig mittellos. Die Halunken, unrasiert, in verschlissenen Jacken, die Hände untätig wartend am Hosenschlitz, schon zu dieser Tageszeit betrunken, blickten verschlagen zu ihm her. Es passte ihnen verständlicherweise nicht, dass er jetzt hier auftauchte und ihnen das sicher geglaubte Vergnügen verdarb. Bestimmt zahlten diese Halbweltgestalten auch ihre Miete nicht. Mit einer herrischen Handbewegung jagte er sie davon. Er setzte sich auf den Bettrand zu Mutter. Ihm wurde selbst warm davon, dass er sie jetzt so geborgen vor sich sah.
    Dann konnte er nicht mehr länger bleiben und ging. Auch so eine eigensinnige Formulierung, die man nur einem Traum durchgehen lässt. Hätte er nicht einfach ruhig am Bettrand sitzen und ihre Hand halten können? Ihr Blick machte ihm keinen Vorwurf, sie strahlte nur Freude aus. Er müsste diese Freude einfach aushalten, aber es riss ihn fort, es saugte ihn förmlich aus diesem Mansardenzimmer, diesem jahrzehntelang unbesuchten Raum, heraus aus diesem Traum, es war ein gewaltiger Strudel, der keinen Grund brauchte.
    Wieder so ein Wort. Gründe liegen uns wie Geröll im Weg. Der Grund ist, worauf das andere ruht. Nachts durchwandern wir unseren Körper und suchen nach dem Grund eines unangenehmen Gedankens. Wir wollen den Gedanken von dem unterscheiden, was der Körper sagt, einem gequälten Herzschlag oder einem Narbenschmerz … Und wenn der Herr uns gnädig ist, schlafen wir darüber ein.
    Der sogenannte Grund lag hell und klar im Sonnenlicht, er hätte ihn erkennen können, hätte er noch Augen gehabt. Am Ende hatte das kleine Stück Metall sich ausgetobt, hatte diesen Matsch satt, diesen mangelnden Widerstand, diesen Witz von Wirklichkeit, die immer floh und derer man niemals habhaft werden konnte.
    Ein ganzes Leben lässt sich so durchpflügen und bleibt als zerwühlter Acker zurück. Deshalb freut sich das Metall, endlich wieder auf ebenbürtige Härte zu stoßen. Der unerwartete Widerstand spornt es an: Freudig erregt sprengt es beim Austritt den Schädelknochen, reißt mutwillig eine Rosette mit zackigen Rändern in die Schale, die Splitter bersten, und sie ist frei. Wie bei einer Geburt spladdert viel Organisches heraus. Zumal die Arteria subarachnoida längst durchschlagen ist und es sich aus ihr ergießt wie aus einem Wasserrohr. Anhalten, den Film!
    Da kann ich ja nur lachen.
    Nun kommen Sie endlich zu Rande! Sehen Sie nicht, der jungen Frau dort ist kalt. Sie zittert, sie steht am Grubenrand und wartet, die Letzte in der Reihe. Der Soldat ist in ihrem Alter, er zögert noch, in einem ganz sinnlosen und dienstwidrigen Anfall von Bedauern, nur weil er sie schön findet und gut gebaut.
    Nein, die schnelle Passage der Kugel ist nichts, nichts gegen das sekundenlange Warten der jungen Frau auf den Schuss, der für sie reserviert ist. Noch hallt
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