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Der Vormacher

Der Vormacher

Titel: Der Vormacher
Autoren: Ferdinand Decker
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keine Minute am Tag, in der sie alle schlafen, einer ist immer wach, und falls keiner wach gewesen wäre, dann war ich es doch. Ich fühlte mich wie am Anfang.«
    Ein langer Seufzer entfährt seiner Brust. Dann bückt er sich und drückt Linda einen Kuss auf die Stirn.
    »Linda, gutes Mädchen, nimm es mir nicht übel«, sagt er. »Du nimmst mir doch nichts übel, oder?«
    Linda schüttelt den Kopf, ganz ruckartig, wie eine Taube, nur seitwärts. Der Chef nickt mehrmals, sein ganzer Oberkörper geht vor und zurück, dann greift er unter den Schreibtisch und holt einen großen Lederrucksack hervor, den er neben sich auf den Tisch stellt.
    »Ich gehe weg«, verkündet er. »Heute Morgen habe ich vor einer Bäckerei eine Muschel gefunden. Stellt euch das vor, eine Muschel mitten in der Stadt! Hier ist sie.«
    Er greift in die Innentasche seines Jacketts und bringt eine große weiße Muschel zum Vorschein.
    »Ich habe sie gegoogelt«, sagt er. »Es ist eine Jakobsmuschel. Eine Muschel, wie sie die Pilger an ihren Mützen befestigen, wenn sie nach Santiago ziehen, nach Santiago de Compostela. Hier ist mein Hut« – er zieht eine runde Mütze aus dem Rucksack, auf der verschiedene Obstsorten abgebildet sind –, »und hier ist der Sekundenkleber, den ich von Lindas Tisch geklaut habe.«
    Er kichert, während er die Muschel an der Mütze festklebt.
    »Bitte, drücken Sie das zwei Minuten aufeinander«, sagt er zu Emil, der die Mütze willenlos entgegennimmt und die Muschel dagegendrückt.
    »Ich werde ein paar Monate weg sein«, sagt er voller Genugtuung. »Erst wollte ich den Laden einfach zumachen, aber das geht nicht, außerdem wäre das schade um Ihre gute Arbeit, ich müsste mich schämen, solche Leute wie Sie zu entlassen, das käme gar nicht infrage, nein, das kommt mir nicht in die Tüte. Also habe ich beschlossen –«
    Er hebt beide Zeigefinger, dann lächelt er nach links und rechts, wie ein Zauberer, der seine größte Nummer ankündigt.
    »Aber nein«, ruft er und schüttelt den Kopf, »jetzt hätte ich beinahe etwas vergessen. Ich bin glücklich, das sehen Sie; und ich will Sie auch glücklich machen. Dass Sie mich nicht verstehen, sehe ich Ihnen an, und etwas anderes erwarte ich auch gar nicht, ich hätte es ja auch nicht verstanden, wenn Henri mir gestern nicht die Augen geöffnet hätte. Ich erwarte nicht, dass Sie mir folgen können, aber das habe ich ja schon gesagt. Genug der Worte – um Ihnen für Ihre gute Arbeit zu danken, bekommt jeder von Ihnen eine Prämie.«
    Er zieht ein Bündel Briefumschläge aus seinem Rucksack.
    »In bar«, erklärt er und schnalzt mit der Zunge. »So macht das Schenken am meisten Spaß.«
    Und so geht der Chef von einem zum anderen, umarmt jeden und überreicht jedem einen Umschlag. Theodora drückt er an sich, als wollte er ihr die Wirbelsäule brechen. Er nimmt Emil die Mütze ab – »Danke, Sie haben ausgezeichnet gedrückt, ganz hervorragend« – und setzt sie auf. Dann wendet er sich an mich. Ich sehe seinen Kehlkopf hüpfen, als er sich räuspert.
    »Henri«, sagt er feierlich, »ich will es kurz machen. Dass ich Ihnen dankbar bin, wissen Sie. Natürlich sollen Sie wie jeder Ihren Umschlag bekommen. Aber in Ihrem Umschlag befindet sich noch etwas anderes – der Schlüssel zu meinem Büro.«
    Schlagartig hört das Getuschel und Geraschel auf. Emil lässt verdutzt die Scheine fallen, die er aus seinem Umschlag gezogen hat.
    »Ich ernenne Sie hiermit zu meinem Stellvertreter – oder besser gesagt, ich biete Ihnen diesen Posten an. Vielleicht haben Sie ja andere Pläne. Ein Mann wie Sie setzt seine eigenen Prioritäten, das sehe ich ein.«
    Mühsam ringe ich mir ein Lächeln ab. Der Chef fasst mich an den Schultern und sieht mir tief in die Augen. Er sieht, was er sehen will; dann nickt er, kurz drückt er mit seinen Fingern, aber diesmal zieht er mich nicht zu sich heran, er schließt mich nicht mehr in die Arme. Ich weiß, warum: Er behandelt mich anders, damit die anderen sehen, dass ich anders bin; damit sie wissen, dass seine Macht auf mich übergeht.
    »Ich werde Ihnen schreiben«, sagt er noch. »Sie können mich auch erreichen, über E-Mail, bestimmt werden Sie noch Fragen haben. Linda ist aber auch mit allen Vorgängen vertraut, und Sie beide werden sicher ausgezeichnet zusammenarbeiten, da habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
    Das sagt er ohne jeden ironischen Unterton, und niemand schöpft Verdacht, niemand tuschelt, niemand lässt ein anzügliches
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