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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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oder neun Jahren gelegt, das zwischen ihr und ihrem Mann stand.
    »Das ist die Tochter meiner Schwester«, erklärte Jara, als Shan näher kam. »Aus einer Stadt in der Provinz Sichuan, viele hundert Kilometer östlich von hier. Sie möchte bei uns das Leben in Tibet kennenlernen. Ihre Eltern haben hier in den Bergen gewohnt, wurden aber noch vor der Geburt der Kleinen weggeschickt, um in einer chinesischen Fabrik zu arbeiten. Sie ist noch nie hier gewesen und hat außer ihren Eltern noch kein einziges Mal andere Tibeter getroffen.«
    »Diese Statue«, sagte Shan. »Weißt du, woher sie stammt?« Ihm fiel auf, daß erst eine, dann noch eine alte Tibeterin sich erhob und in die Richtung, wo der tote Atso lag, im Schatten verschwand.
    »Es gibt viele davon, wenn man weiß, wo man suchen muß«, erwiderte der Hirte. »Der große Kerl da drüben hat den ersten der abgeschlachteten Götter gefunden.« Er wies auf einen riesigen, stiernackigen Hirten in schmutziger Schaffellweste, der zehn Meter entfernt von ihnen stand. »Er hat gesagt, die Gottestöter seien die schlimmsten aller Dämonen. Er hat einen der Toten zu uns gebracht, weil er dachte, jemand aus meiner Familie könne ihn vielleicht heilen.«
    »Hast du vorhin die Gottestöter gemeint?« fragte Shan. »Sind sie diejenigen, die wegen eines Worts töten? Geht es um ein bestimmtes Wort?«
    Die Frage schien Jara wie ein Schlag zu treffen. Er zuckte zusammen, preßte sich eine Faust vor den Mund, als fürchte er, ihm könne ungewollt eine Äußerung entweichen, und ging weg.
    »Was ist denn?« fragte das Mädchen, ohne Surya aus den Augen zu lassen, der wenige Schritte vor ihr saß. »Was ist denn mit diesen armen Männern los?«
    »Das ist bloß ein Laut, den Seelen von sich geben«, sagte Lokesh mit zufriedenem Lächeln. Die Kleine schmiegte sich daraufhin nur noch enger an ihre Tante.
    »In den Fabrikstädten wird nicht gelehrt, wie Seelen sprechen«, warnte Jaras Frau.
    »Aber etwas in ihr möchte gern zuhören«, stellte Lokesh fest, als das Mädchen sich aufrichtete, den Kopf ein Stück zur Seite neigte und nicht länger furchtsam, sondern staunend Surya betrachtete. Eine der alten Tibeterinnen kehrte mit besorgter Miene zurück, schlug aber keinen Alarm. Shan sah, daß sie um ihre Fassung rang. Trotz Atsos Tod wollte sie diese erste Feier seit vielen Jahren nicht stören.
    »Ich habe Angst«, räumte Jaras Frau nervös ein. »All diese Mönche. Falls jemand aus der Stadt …«
    »Meine Mutter hat jedes Jahr gesagt, dieser Tag sei voller Wunder«, warf Lokesh ein und rieb sich nachdenklich das bärtige Kinn. »Sie hat mir erzählt, aus einem bayal könnten Heilige zum Vorschein kommen«, fügte er verschmitzt hinzu und spielte damit auf die überlieferte Kunde von den verborgenen Ländern an, in denen Gottheiten und Heilige lebten. »Es ist eine Zeit der Freude, nicht der Angst. Wann hast du diesen Tag zuletzt gefeiert?«
    Die Frau wandte den Kopf ab, und Shan konnte nicht erkennen, ob sie verlegen war oder nur versuchte, Lokesh zu ignorieren. Einen Augenblick später sah sie wieder Surya an. »Ich war noch ein kleines Mädchen«, sagte sie mit entrücktem Lächeln.
    Lokesh drehte sich zu einem der Tontöpfe um, die überall auf dem Hof verteilt standen, griff hinein und hielt die Hand dann der Frau entgegen. Im ersten Moment wich sie zurück, als fürchte sie sich. Dann streckte sie zögernd einen Arm aus, und Lokesh ließ etwas weißes Mehl auf ihre Handfläche rieseln. Unschlüssig starrte die Frau diese Gabe an.
    Der alte Tibeter vollführte lächelnd mit seiner Hand mehrere ruckartige Aufwärtsbewegungen.
    »Einer meiner Cousins sitzt deswegen im Gefängnis«, sagte die Frau, musterte versonnen das Mehl und seufzte. Dann schleuderte sie es plötzlich in die Luft, was ihren Mann zu einem Freudenschrei veranlaßte. In der nächsten Sekunde tat Lokesh es ihr gleich, so daß sie alle in eine kleine Wolke Gerstenmehl gehüllt wurden.
    Die angespannte Miene der Frau veränderte sich zu einem Lächeln, weil Lokesh mit ausgebreiteten Armen einen kleinen Freudentanz aufführte und dabei so leichtfüßig wirkte, als wolle er sogleich hinwegschweben. Sie warf noch mehr Mehl empor, klatschte in die Hände und legte den Kopf in den Nacken, so daß der feine weiße Staub auf ihrem Gesicht landete. »Er hat ein weiteres Jahr gelebt!« rief sie. Einige der alten Tibeter fielen in den Ruf ein und griffen nun ebenfalls in die Tontöpfe.
    Gerstenmehl in die Luft zu werfen
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