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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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war, hatte der Mann sich hinter seinen Gefährten eingereiht. Nervös und schweigend waren sie ihrem Führer bis zum früheren großen Innenhof des gompa gefolgt.
    »Ein Wunder!« hatte die Frau mit der roten Weste erstaunt gerufen, den Arm einer alten Frau neben sich umklammert und den drei Meter hohen, eindeutig erst kürzlich errichteten Schrein angestarrt, der in der Mitte des Hofs aufragte. Zögernd waren sie dann gemeinsam vorgetreten, hatten den vor dem Schrein sitzenden Surya gemustert, das leuchtend weiße Gebilde zunächst argwöhnisch betastet, als würden sie ihren Augen nicht trauen, und sich dann ehrerbietig vor dem Mönch niedergelassen. Die anderen waren allmählich gefolgt, und einige hatten dabei die Gebetsketten berührt, die an ihren Gürteln hingen.
    Nun aber, als Suryas Kehlgesang einsetzte, wichen mehrere der Hügelleute in die Schatten zurück. Die anderen waren von dem Geräusch wie gebannt und verfolgten mit weit aufgerissenen Augen, daß Surya fröhlich den Kopf zurückwarf, ohne in seinem Bemühen innezuhalten.
    »Gottestöter!« Der Schrei kam von überall und nirgends und hallte von den eingestürzten Mauern wider. Ein Stein flog an Shans Schulter vorbei und traf Surya am Knie. »Mörder!« rief dieselbe furchtsame Stimme. Der Gesang des Mönchs stockte und erstarb. Suryas Augen richteten sich auf den Stein.
    »Gottestöter!« Als das Wort zum zweitenmal erklang, wandte Shan sich hastig um und entdeckte einen kleinen Mann mit ledrigem Gesicht und der zerlumpten Kleidung eines Hirten, der mit wütendem Blick auf Surya wies.
    Der Fremde nahm einen weiteren Stein, doch da war Shan auch schon an seiner Seite und packte ihn am Handgelenk. Der Mann sträubte sich, wollte sich losreißen und Shan zurückstoßen. »Lauft um euer Leben! Die Mörder!« schrie der Hirte den anderen zu, die auf dem Hof verweilten.
    Ein alter Tibeter, dessen Haupt und Kinn mit kurzen weißen Stoppeln bedeckt waren, erschien neben dem Fremden. Der Hirte sah ihn verunsichert an und hörte auf, sich zu wehren. Mit sanfter Gewalt öffnete Lokesh die Faust des Mannes, so daß die Kiesel zu Boden fielen. »Surya ist ein Mönch«, sagte er ruhig. »Er ist das genaue Gegenteil eines Gottestöters.«
    »Nein«, knurrte der Hirte, während Surya hinter ihnen abermals den Gesang anstimmte. Der Zorn in seinen Augen wich tiefer Verzweiflung. »Die Regierung steckt Männer in Mönchsgewänder, um uns zu täuschen. Wir sollen verleitet werden, die alten Bräuche zu pflegen, damit man uns verhaften oder gar noch Schlimmeres mit uns anstellen kann.«
    »Nicht heute«, sagte Lokesh. »Nicht hier.«
    Da schüttelte der Mann den Kopf, als wolle er dem alten Tibeter widersprechen, und deutete hinter sich auf die Schatten zwischen den verfallenen Mauerresten.
    Eine Frau tauchte auf. Sie hielt die vorderen Zipfel einer zusammengerollten Decke gepackt. Hinter ihr folgten zwei Jungen, der größere höchstens zehn Jahre alt, und trugen ernst, mit trostlosen, müden Mienen das andere Ende der langen Last. Als die drei den Hirten erreichten, ließen sie die schwere Bürde zu Boden sinken. Die Jungen eilten sofort zu der Frau und vergruben die Gesichter in ihrem dicken Filzrock. Der kleinere der beiden stieß ein leises Schluchzen aus.
    Lokesh kniete nieder, lüftete vorsichtig eine Ecke der Decke und stöhnte unwillkürlich auf.
    Dort vor ihm lag ein alter Mann mit dünnem, struppigem Bart. Sein linkes Ohr hing zerfetzt, und die linke Gesichtshälftewar blutverkrustet und eingefallen, da man ihm Wange und Kiefer zertrümmert hatte. Die leblosen Augen schienen fragend gen Himmel zu blicken.
    »Sie haben ihn totgeprügelt«, flüsterte der Hirte, ohne seinen argwöhnischen Blick von Shan und Lokesh abzuwenden. »Haben ihn zusammengeschlagen und einfach so liegengelassen.«
    Shan bückte sich und schlug die Decke ganz beiseite. Die Beine des Mannes schienen beide gebrochen zu sein; eines war in unnatürlichem Winkel verdreht, beim anderen war die Hose aufgerissen, so daß man blutiges Fleisch und ein Stück Knochen erkennen konnte. »Wer ist bloß zu so etwas fähig?« fragte er und sah in die leeren braunen Augen des Toten.
    »Er hieß Atso und war über achtzig Jahre alt«, erwiderte der Hirte. »Er hat am Fuß einer Klippe allein in einer Hütte gewohnt, drei Kilometer östlich von hier, in Richtung des Tals.« Der Mann hielt kurz inne, als müsse er sich um Fassung bemühen. »Niemand hier in den Hügeln hat so viel wie er über unsere
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