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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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Traditionen gewußt.«
    »Man hat ihn umgebracht, weil er die alten Bräuche gepflegt hat?« fragte Shan.
    Der Hirte zuckte die Achseln. »Man wird hier schon wegen eines Worts getötet«, stellte er mit hohler Stimme fest und klang dabei dermaßen sachlich, daß Shan erschauderte. Der Mann zog ein Messer aus dem Gürtel und schob mit der Klinge ein Stück Heidekraut aus dem Haar des Toten. Tibeter vermieden es nach Möglichkeit, eine Leiche direkt zu berühren. »Atso hätte niemals Fremde an sich herangelassen, es sei denn, einer von ihnen wäre wie ein Mönch gekleidet gewesen«, sagte er anklagend und schaute besorgt zu der Frau und den Jungen, die sich dem Ursprung des Kehlgesangs näherten. »Mörder sind unter uns«, flüsterte er.
    Die Worte ließen Shan zu dem Berggrat oberhalb der Klosterruine aufblicken. Inmitten einiger Sommerblumen saß dort eine schmale, schwarz gekleidete Frau und suchte mit einem Fernglas die Landschaft ab. Liya, eine der wenigen Einheimischen, die den Mönchen insgeheim behilflich waren, hielt Wache.
    »Es müssen Gebete gesprochen werden«, verkündete Lokesh.
    »Nein«, entgegnete der Hirte. »Hier in den Hügeln verzichten wir auf jede Zeremonie, damit man uns nicht verhaftet.«
    »Aber du bist heute hergekommen«, wandte Lokesh ein.
    »Die Frau da oben«, sagte der Hirte und wies in Liyas Richtung, »ist mit ihrem Pferd von Lager zu Lager geritten und hat in Anwesenheit meiner Familie behauptet, hier würde heute ein Wunder geschehen. Wie konnte ich da nein sagen, wo meine Kinder doch alles gehört hatten? Bei unserem Aufbruch heute morgen haben die beiden sogar gesungen, was sie sonst nie machen. Dann sind wir in der Nähe seiner Hütte auf Atso gestoßen.«
    Shan erkannte, daß nicht die eigentlichen Worte des Hirten ihn schmerzten, sondern der Tonfall, in dem er sie vortrug. Der Mann klang trotz seiner Verzweiflung, als sei all sein Leid schon vor langer Zeit aufgebraucht worden.
    »Und nun sitzt hier ein Mann in einem Mönchsgewand und will uns in die Falle locken«, fügte der Hirte hinzu. »So wie die Gottestöter es immer tun.«
    Der Begriff versetzte Shan aufs neue einen Stich. »Warum benutzt du so ein schreckliches Wort?« fragte er.
    Der Hirte hob mit dem Messer einen kleinen Beutel an, der neben dem Toten lag. Als Shan das Behältnis nahm und den Inhalt auf die Decke schüttete, stieß Lokesh einen weiteren Klagelaut aus. Es war eine kleine, zierliche Silberstatue der Schutzgöttin Tara, ein in jeder Hinsicht vollkommenes Kunstwerk, dessen Kopf man jedoch mit einem wuchtigen Hieb plattgeschlagen hatte. Der Hirte drehte die Figur mit seiner Messerklinge um. Der Rücken der Göttin war gespalten, als hätte man sie von hinten erdolcht.
    Die geschändete Statue schien Lokesh mehr zuzusetzen als der Anblick der Leiche. Der alte Tibeter nahm die zerstörte Göttin, barg sie einen Moment lang mit feucht schimmerndem Blick in den Armen und legte sie dann zurück neben den übel zugerichteten Toten, wobei er ihr beständig zuflüsterte. Shan konnte die Worte nicht verstehen, aber der Kummer seines Freundes war unverkennbar.
    Als Lokesh wieder aufblickte, wirkte er unerwartet entschlossen. Er erhob sich langsam, nahm den Hirten beim Arm und führte ihn einige Schritte zu einer Stelle, von wo sie Surya sehen konnten. Lokesh wollte nicht zulassen, daß die Ängste der Hirten die Feier zunichte machten.
    »Hört genau hin, was für ein Geräusch er von sich gibt. Schaut euch diesen chorten an«, sagte der Hirte mit Blick auf den Schrein. »Falls der Mann nicht für die Regierung arbeitet, muß er ein Zauberer sein. Ich treibe meine Schafe jeden Frühling in diese Gegend. Der Schrein war noch nie zuvor da. Den müssen Geister gebaut haben.«
    Geister. Shan und Lokesh sahen sich an. Der Mann hatte in gewisser Weise recht: Die Mönche von Yerpa, der verborgenen Einsiedelei, in der Shan und Lokesh lebten, hatten das kleine Gebilde im Mondschein geschaffen. Dabei hatte einer der Männer unaufhörlich gebetet, während die anderen zunächst das mehrstöckige Fundament und schließlich die glockenförmige Spitze errichteten. Der Schrein sollte der Klosterruine als Denkmal dienen, als ein Zeichen dafür, daß die Götter die einheimische Bevölkerung noch nicht völlig vergessen hatten.
    »Geister und Mörder – und diese Liya läßt mich meine Familie herbringen.«
    »Ich werde dir ein Geheimnis verraten«, flüsterte Lokesh angespannt, was sonst gar nicht seine Art war. Shan wußte,
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