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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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wie sehr es seinen alten Freund schmerzte, daß die Hügelleute ihnen so großes Mißtrauen entgegenbrachten. Lokesh schloß kurz die Augen, als müsse er sich beruhigen. Die Situation stand auf Messers Schneide, begriff Shan. Noch ein paar Worte des Hirten an die anderen Tibeter, und alle würden die Flucht ergreifen. Manche von ihnen würden danach womöglich Gerüchte über Mörder oder gar über illegale Mönche verbreiten und auf diese Weise Soldaten in die Berge locken.
    Lokesh holte sein gau hervor, das silberne Gebetsamulett, das um seinen Hals hing, und klappte es behutsam auf. Es war unüblich, dies vor den Augen eines Fremden zu tun, und der Hirte verstummte vorerst. Im Innern des Medaillons steckte unter mehreren zusammengefalteten kleinen Zetteln, die Lokesh inseine Handfläche ausschüttete, das winzige Foto eines kahlköpfigen, bebrillten Mönchs mit gelassener Miene und fröhlichem Blick. »Der Mönch, den du singen hörst, heißt Surya«, erklärte Lokesh. »Er kommt aus dem Hochgebirge, nicht aus der Welt dort unten. Und auch er trägt in seinem gau ein Bild des Dalai Lama bei sich.« Er deutete auf das Foto. »Hast du denn wirklich vergessen, welcher Tag heute ist?«
    Der Mann runzelte die Stirn und hob eine Hand an die Schläfe, als würde er plötzlich Schmerz verspüren. Er starrte erst Lokesh und dann Surya an, bevor die Angst in seinem Blick allmählich schwand und einer traurigen Verwirrung wich. »Ich habe auch so eins. Schon mein Vater und davor sein Vater haben es getragen«, sagte er und zog unter seinem Hemd ein kostbares silbernes gau hervor. »Aber es ist leer«, fügte er gequält hinzu. »Als ich noch klein war, hat mein Lehrer den Inhalt verbrannt.« Die Worte schienen ihn wieder an die Gefahren der Gegend zu erinnern, und er schaute erneut zu Atsos Leiche. »Sein Mörder ist hier irgendwo unterwegs und lauert alten Tibetern auf. Ihr müßt fliehen. In der Stadt heißt es, auf irgend jemanden sei ein Preis ausgesetzt worden. Die Soldaten fahnden nach ihm. Wir müssen …« Seine Stimme erstarb, und sein Blick richtete sich wieder auf Lokesh.
    »Was für alte Tibeter?« fragte Shan bestürzt. »Wer hat einen Preis …« Auch er verstummte und sah Lokesh an.
    Sein Freund löste mit einem Fingernagel soeben das Foto aus dem gau . Ungläubig sah der Fremde dabei zu, wie Lokesh das Bild statt dessen im Amulett des Hirten verstaute. »Wir werden Surya bitten, ein Gebet aufzuschreiben, damit du es dicht am Herzen tragen kannst«, sagte der alte Tibeter.
    Der Mann öffnete und schloß mehrmals den Mund, als müsse er um Worte ringen. »Du meinst es wirklich ernst? Er ist ein echter Mönch?« Man sah ihm die Verblüffung und die Dankbarkeit an, dann Ehrfurcht und Schmerz. »Ich heiße Jara«, flüsterte er schließlich und ließ nun Surya nicht mehr aus den Augen. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Mönch gesehen, nur die aus Lhasa, die einmal im Jahr vom Büro für Religiöse Angelegenheiten geschickt werden. Sie betennicht, sondern halten Ansprachen. Auch die Kinder …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken. »Für einen echten Mönch ist es hier viel zu gefährlich«, fuhr er dann hastig fort. »In dieser Gegend gilt er als geächtet. Die Soldaten werden ihn zum Gefängnis ins Tal bringen. Er muß sein Gewand verbergen. Bitte, ich flehe euch an, bedeckt seine Robe. Ihr habt ja keine Ahnung, wie furchtbar dieses Straflager ist.«
    Lokesh lächelte und schob einen Ärmel hoch. Der Hirte war im ersten Moment verwirrt, bis er die lange eintätowierte Nummer auf dem Unterarm des alten Tibeters bemerkte.
    »Du warst dort?« stöhnte der Hirte. »Du bist ein Häftling gewesen und gehst trotzdem ein solches Risiko ein?«
    Lokesh wies auf eine alte, rissige Kohlenpfanne neben dem chorten , eine zeremonielle samkang aus Metall, in der einige Wacholderzweige brannten. »Der duftende Rauch lockt die Götter an. Sie werden uns beschützen. Du wirst schon sehen.«
    Shan wandte sich zu Liya um, die weiterhin hoch über ihnen wachte. Nicht jeder hier verließ sich auf den Schutz der Götter. Die schwarz gekleidete Frau hielt nach Westen hin Ausschau, in Richtung der Garnison im Tal von Lhadrung, und hätte sogleich Bescheid gegeben, falls Soldaten aufgetaucht wären.
    »Dieser Gesang, den er da von sich gibt«, sagte Jara und zeigte auf Surya. »Ist es das, was Mönche normalerweise tun?«
    Lokesh zuckte die Achseln. »Es ist ein Teil der Feier. Er hat für sich Klarheit erlangt und tut
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