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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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seine Freude darüber kund.« Bei diesen Worten sahen er und Shan sich verunsichert an. Tags zuvor in Yerpa waren sie Zeugen eines merkwürdigen Vorfalls geworden. Nach wochenlanger Arbeit an dem Gemälde eines Gottes hatte Surya das Bild plötzlich zerstört. Auf Fragen nach dem Anlaß seines Tuns hatte er nicht reagiert, sondern nur stumm die Leinwand zerfetzt und seitdem mit niemandem mehr gesprochen. Wenigstens schien der Gesang nun wieder den fröhlichen Surya zum Vorschein gebracht zu haben, den sie beide kannten.
    Jara wirkte keinesfalls beruhigt, sondern wandte sich nervös zu den Hängen um. »Die Tibeter in Lhadrung feiern nicht, es sei denn an einem chinesischen Festtag. Das hier ist OberstTans Bezirk.« Der Hirte erschauderte. Lhadrung gehörte zu den wenigen Gebieten, die noch immer unter Militärverwaltung standen, und der hiesige Kommandant war für seine Härte berüchtigt.
    »Nein. Du bist jetzt in Zhoka«, sagte Lokesh, als wäre die windgepeitschte Senke ein anderer Ort, eine Zufluchtsstätte, die nicht zu Tans Bezirk gehörte. »Es gibt so viel, wofür wir dankbar sein können.«
    Jara ließ den Blick über die Klosterruine schweifen, in der kein einziges intaktes Gebäude mehr existierte, musterte die verängstigten, bettelarmen Tibeter auf dem Hof und sah dann Lokesh an, als hielte er den alten Mann für verrückt. »Ich weiß, welcher Tag heute ist«, flüsterte er. »In der Stadt wurde ein Mann verhaftet, weil im Schaufenster seines Teeladens ein Kalender hing, auf dem dieses Datum angestrichen war.«
    »Dann such dir einen anderen Grund aus. Sieh es als Fest der Rückkehr der Mönche.«
    Jara wies mit ausholender Geste auf das Trümmerfeld inmitten der kargen Landschaft. »Woher kommen sie denn? Sind sie von den Toten auferstanden? In dem Land, in dem ich lebe, kehren Mönche nur dann zurück, wenn das Büro für Religiöse Angelegenheiten es anordnet.«
    »Nenn es die Feier der neuen Freiheit.«
    »Freiheit?«
    Lokesh bedachte Jara und sein gau mit einem melancholischen Blick. »Von diesem Tag an kannst du dir aussuchen, an welchem Ort du lebst.«
    Der Hirte lachte verbittert auf. Als er den alten Tibeter ansah, nahm Lokeshs Miene einen entrückten Ausdruck an, so als würde er hinter Jaras Augen in einen anderen Teil seines Wesens schauen. Der Hirte hielt dem Blick ruhig stand und hob zögernd eine Hand, als wolle er die weißen Bartstoppeln des größeren Tibeters berühren, genau wie die anderen zuvor ungläubig den chorten berührt hatten.
    »Du wirst das Land, in dem du lebst, dauerhaft verändern, weil du in deinem gau ein Gebet von hier mitnimmst«, sagte Lokesh leise. Noch während er sprach, tauchte eine weitereGestalt im Mönchsgewand auf, ein hochgewachsener, würdevoller Mann, dessen Gesicht glatt wie ein Pflasterstein war. Gendun, der Vorsteher der versteckten Einsiedelei Yerpa, in der Surya, Shan und Lokesh lebten, warf Jara einen freundlichen Blick zu und betrachtete dann mit traurigem Lächeln den toten Atso. »Lha gyal lo« , sagte er leise und ehrerbietig zu dem Leichnam. Den Göttern der Sieg.
    Beim Anblick des Lama schien in Jaras Augen jähe Begeisterung aufzublitzen. Wohl niemand konnte in Genduns offenes, heiteres Antlitz schauen und dahinter eine Heimtücke vermuten. Als der Lama auf den Innenhof zurückkehrte, folgte Jara ihm langsam, deutete aber noch einmal auf den Toten. »Dennoch ist dort draußen ein Mörder unterwegs«, sagte er unschlüssig, als würde er mit sich selbst zu Rate gehen.
    »Nicht hier. Nicht heute«, sagte Lokesh zum zweitenmal in jener Stunde.
    Zu Shans Überraschung begleitete der alte Tibeter den Hirten nicht zu dessen Frau und Kindern, sondern bedeutete Shan, er möge sich mit ihm ein Stück zurückziehen. Als sie einige Schritte vor Atsos Leichnam standen, wandte Lokesh sich zum Hof um und stellte sich breitbeinig wie ein Wachposten auf. Shan war im ersten Moment verwirrt, begriff dann aber, daß keiner der anderen Tibeter ihn oder Atso sehen konnte.
    Er schob die breite Krempe seines Huts zurück, kniete sich neben den Toten und nahm eine schnelle Untersuchung vor. Eine von Atsos Händen war um ein gau geschlossen, das er an einer alten Silberkette um den Hals trug, die andere hielt eine mala , eine Gebetskette. Der Rücken der ersten Hand wies eine klaffende gezackte Wunde auf, die von einem Knüppel oder Gewehrkolben herrühren konnte. Beide Handflächen waren zerkratzt und abgeschürft, die Fingernägel rissig und gesplittert. An einem
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