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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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bin, waren zwischen hier und dem Tal Fremde in den Bergen.« Liya verzog gequält dasGesicht. »Ich bin abgestiegen und wollte mich verstecken, aber sie haben plötzlich Lampen auf mich gerichtet und etwas gerufen. Sie sagten, ich dürfe nicht nach Osten – als würde das Land rund um Zhoka ihnen gehören. Ich dachte, es seien Hirten, die sich um ihre Weiden sorgten, und nahm an, die Mönche wären bestimmt froh, heute so viele Leute wie möglich hier zu haben. Als ich sagte, hier würde eine Feier mit Mönchen stattfinden, fingen zwei der Leute an, sich aufgeregt auf englisch zu unterhalten. Ein Mann und eine Frau. Jemand hat mir direkt ins Gesicht geleuchtet, sich dann auf chinesisch entschuldigt und zusammen mit den anderen den Rückzug angetreten. Es ergab keinen Sinn. Was sollte ein Westler denn schon von Zhoka wissen? Und welcher Chinese würde sich auch nur an diesen Ort erinnern?« Sie rieb sich ein Auge. »Ich hätte es besser wissen und die Leute warnen müssen.«
    »Die Arbeit, die hier geleistet wurde, war in ganz Tibet berühmt, sogar bei den Göttern«, warf auf einmal eine tiefe, sanfte Stimme ein. Surya stand einige Schritte hinter Shan im Eingang der Klosterruine und betrachtete angestrengt einen kleinen Felsbrocken in seiner Hand. Nein, sah Shan, das war kein Stein, sondern ein Stück Verputz, ein Teil eines Gemäldes. Man konnte deutlich die vordere Hälfte eines Rehs erkennen, ein vertrautes Motiv aus den Darstellungen von Buddhas erster Predigt. »Hier«, sagte der Mönch in sonderbar reumütigem Tonfall zu dem Reh, »hier mußt du an den Erdboden genagelt werden.«
    Als Shan sich ihm näherte, betrat der alte Mann die Ruine und schien genau wie am Vortag noch immer keinen von ihnen wahrzunehmen.
    In der Stille, die auf Suryas befremdliche Worte folgte, nahm Shan die Trümmer zu Füßen des Mönchs in Augenschein und verspürte unvermittelt eine schreckliche Vorahnung, die es nur um so dringlicher erscheinen ließ, daß er begriff, was hier vor sich ging. Eine der Wände stand noch teilweise, der Rest waren Steine, zerbröckelter Putz und verkohlter Schutt. Surya ging noch einen Schritt, schien einen Schwächeanfall zu erleiden und fiel auf die Knie. Lokesh wollte ihm zu Hilfe eilen und erstarrte,als Surya die langen Finger emporreckte und sie mehrmals öffnete und schloß, als wolle er etwas vom Himmel herabbeschwören.
    Kurz darauf deutete der Mönch auf einen Trümmerhaufen außerhalb seiner Reichweite. Shan ging zögernd auf die verbrannten Balken und zerbrochenen Dachziegel zu. Liya half ihm, und nach kaum einer Minute hatten sie eine kleine geborstene Holzkiste mit zwei Schubfächern freigelegt, zwanzig Zentimeter hoch und fast doppelt so breit. Als Shan die Kiste an Surya weiterreichte, leuchteten die Augen des Mönchs auf. Obwohl er, genau wie sie alle, die Ruinen zum erstenmal besuchte, schien er den Kasten zu kennen. Als er die untere Lade herauszog, brach das verwitterte Holz der Vorderseite ab. Surya griff hinein, holte eine Handvoll langer, eleganter Pinsel hervor und streckte sie himmelwärts. Er schloß die Augen, als würde er ein kurzes Gebet sprechen, und fing an, die Pinsel an die Anwesenden zu verteilen. »Heute wird das Ende aller Dinge sein«, flüsterte er lapidar, aber eigenartig fröhlich, und lächelte dann, als er Shan den letzten Pinsel gab. »Gesegneter Atso. Gesegneter Beschützer!« rief er.
    Shan starrte den Mönch an und war verwirrter als je zuvor. Surya kannte den Toten. Hatte er irgendwie versucht, ihnen zu erklären, was mit Atso geschehen war?
    »Hört dem kleinen Mädchen zu«, rief Surya aus. »Sie versteht.« Der Mönch erhob sich abrupt und kehrte auf den Innenhof zurück. Shan und Lokesh sahen sich fragend an. Hier gab es kein kleines Mädchen. Außer Jaras Söhnen hatten sie keine Kinder gesehen.
    Heute wird das Ende aller Dinge sein . Shan hörte immer noch Suryas Worte, als er mit Lokesh wieder auf den Hof trat. Der lange schmale Pinsel steckte in seiner Tasche. Für Gendun und die Mönche würde es tatsächlich das Ende bedeuten, falls Soldaten hier auftauchten.
    Shan zwang sich, seine Aufmerksamkeit den Gebeten und den ehrfürchtigen Tibetern zu widmen. Jara stand mit seiner Frau drei Meter vor dem chorten , beobachtete den jungen Mönch, der den Gesang übernommen hatte, und nickte, alsSurya sich neben den Glaubensbruder setzte und in die Litanei einfiel. Lokesh zupfte Shan am Ärmel. Jaras Frau hatte einen Arm um ein Mädchen von allenfalls acht
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