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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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diese Leute fürchteten, ich könnte die Wahrheit sagen. Damals wollte ich sterben, und ich wäre tatsächlich gestorben, hätten Lokesh und andere wie er mir nicht beigebracht, wieder zu leben.«
    Dawa wirkte unschlüssig. Shan nahm einen Mehltopf und hielt ihn ihr hin. Zögernd richtete sie ihren Blick auf das Gefäß und griff mit zitternden Fingern hinein. Sie schien vor lauter Aufregung zu erschaudern. Dann warf sie eine Handvoll Mehl empor und verfolgte feierlich, wie es wieder zu Boden rieselte. »Ich habe gesehen, wohin sie gehen. Ich glaube, ich kenne den Weg in das verborgene Land«, verkündete sie unsicher und schaute dabei Surya an, der von seinem Platz neben dem jüngeren Sänger aufgestanden war und nun mit gemächlichen, würdevollen Schritten den Hof überquerte.
    Shan verstand nicht, was Dawa meinte, und blickte ihr hinterher, als sie dem Mönch in die Ruinen folgte. Ein ungewohntes Geräusch ließ ihn sich zu dem chorten umwenden. Gelächter. Mehrere der älteren Tibeter lachten und warfen unterdessen immer mehr Mehl in die Luft. Die Feier hatte wahrhaftig begonnen.
    Dann packte jemand ihn am Arm. Liya stand mit bleichem Gesicht neben ihm und nickte in Richtung des alten steinernen Turms, der sich in etwa anderthalb Kilometern Entfernung auf dem Grat oberhalb der Ruinen erhob.
    Im ersten Moment konnte Shan nichts Außergewöhnliches entdecken, aber dann bewegte sich am Fuß des Turms etwas Grünes. Seine Kehle schnürte sich zu. Dort oben waren Soldaten, mindestens ein Dutzend. Er sah sich hastig um. Niemand sonst hatte bemerkt, daß die Armee sie beobachtete. Eine Warnung würde die Tibeter in Panik versetzen und zu einem sofortigen Fluchtversuch veranlassen, wenngleich die meisten der Leute in den höher gelegenen Regionen westlich des Tals zu Hause waren, so daß ihnen nun der Rückweg versperrt wurde.
    »Du mußt es ihm sagen«, drängte Liya verzweifelt. »Versuch es wenigstens.«
    Shan nickte langsam, sah Liya wieder verschwinden und betrachtete die fröhlichen Tibeter. Sie hatten endlich einmal vergessen können, was für ein mühseliges Dasein sie auf den felsigen Hängen fristeten und welche Ängste sie ständig begleiteten, aber ihr Jubel würde nur von kurzer Dauer sein. Shan machte sich auf die Suche nach Gendun.
    Fünf Minuten später fand er den Lama im Norden des Klostergeländes, wo Gendun in den hundertfünfzig Meter tiefen Abgrund schaute, der das Areal auf dieser Seite begrenzte. Seltsamerweise saß der alte Mann nicht mit übergeschlagenen Beinen da, sondern ließ die Füße zwanglos über den Rand der Kluft baumeln und verfolgte mit begeistert glänzenden Augen, wie ein Falke in den Aufwinden über der Schlucht schwebte. Ohne sich umzudrehen, klopfte Gendun auf den Felsen neben sich. Shan nahm Platz. »Ich habe einen solchen Tag nicht mehr erlebt, seit ich ein kleiner Junge war«, sagte der Lama. »Damals haben wir bei dem Bergkloster, in dessen Nähe ich geboren wurde, stets ein weißes Zelt errichtet und den ganzen Tag lang gesungen. Die Mönche befestigten einen geheimen Segensspruch am Ende eines hohen Pfahls, und wir sind abwechselnd nach oben geklettert und haben versucht, ihn uns zu holen.«
    »Es sind Soldaten in der Nähe«, sagte Shan ruhig und musterte die verschlissenen Seile und gesplitterten Holzbohlen, die auf der gegenüberliegenden Seite der Kluft in die Tiefe hingen. Das waren die Überreste der alten Brücke, die den nördlichen Torhof des gompa einst mit der Außenwelt verbunden hatte.
    Gendun wandte beinahe vorwurfsvoll den Kopf und schaute zu einem langen Stein, der auf einem flachen Schutthaufen lag und ursprünglich als Türsturz gedient hatte. Jemand hatte ihn freigelegt und dadurch eine verblichene, aber immer noch leserliche Aufschrift zum Vorschein gebracht: Studiere nur das Absolute. Auf dem Stein standen ein gerahmtes Porträt des Dalai Lama sowie das Fragment einer lebensgroßen Bronzestatue, eine anmutig nach oben gewölbte Hand.
    »Früher wäre dies ein Festtag für das ganze Volk gewesen.« Genduns Stimme glich trockenem Gras, das im Windhauch raschelt. »Wir sorgen dafür, daß es wieder so wird. Das hier ist der Anfang.«
    Für Gendun war es der Anfang, doch Surya behauptete, es sei das Ende. Shan sah noch einmal zu der Inschrift auf dem Stein und erforschte dann sorgfältig Genduns Miene. Das Antlitz des alten Lama konnte so komplex wie der Himmel sein. Sein Blick hatte sich geklärt. Er würde es nicht gutheißen, wenn jemand den Mönchen
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